Schon kurz darauf geschah es dann, daß sich der Professor Esser über einen im Auftrag der Zeitschrift für Soziologie (April 1991) verfaßten Aufsatz sehr nachhaltig für den »Doppelpaß als soziales System« verwendete, mit der präzisen Prämisse, daß »Doppelpässe weder sinnlos sein können, noch daß ihr Mißlingen möglich wäre«.
Voilà. Scharf auf klare und distinkte Gedanken ist zumal der gebildete Fußballfan angesichts der unvermindert »neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas), die allenthalben den Verstand bedrückt; nach schlagenden Evidenzen verlangen desgleichen die am kaum bis zum erlösenden Ende durchdachten Dekonstruktivismus oder Neo- resp. Poststrukturalismus wie belämmert herumlaborierenden akademischen Nachwuchskräfte, und es ist leicht einzusehen: »Doppelpässe sind […] auf sich selbst bezogene und sich selbst tragende Konstruktionen.«
Was heißt das aber jetzt im näheren? Vorderhand: Kantische bzw. kantianische Erkenntnistheorie ist obsolet. Warum? Leider hilft sie »als begriffliche Anstrengung, als selbstreferentielle und selbsttragende Architektonik von Leitdifferenzen und Vergleichsmöglichkeiten« den Fußball und seinen prozessualen Kernbereich, den Doppelpaß, nicht zu durchschauen. Wer einen solchen Befund akzeptiert, findet sein Glück in der widerspruchsfreien Schönheit eines Doppelpasses. Er ist, was nie mißlingen kann. Er »ist ein Prozeß, der – über alle kooperativen und antagonistischen Episoden hinweg – eben solange prozessiert, wie er prozessiert, dieses dann aber auch tatsächlich tut«.
Gewiß, es mag ein Wagnis sein, den Doppelpaß als autopoetisches Ganzes in den Griff bekommen zu wollen. Essers »Überlegungen gehen [jedoch] davon aus, daß es Doppelpässe gibt«. Und es gibt sie wirklich. Wer wollte es bezweifeln. Esser nicht. »Damit ein Doppelpaß existieren kann, muß es ihn erst einmal geben«, und »erst ein Doppelpaß ist – ganz radikal systemtheoretisch gedacht – ein Doppelpaß«.
Mögliche Einwände dahingehend, ob Essers Ausführungen zum Doppelpaß denn in die komplette Systemtotalität des Fußballs vorstießen, wären ohne jeden Zweifel im großen und ganzen haltlos. Bombensichere Erkenntnis gewinnt, wer Ganzes und Teil in ihrer reziprok-innigen Gemeinschaftlichkeit in den Blick nimmt und dann »als prozessuale Oberfläche jener integrationistisch-holistischen Version eines Gesamt« versteht, dessen Sinn sich in der ganzheitlichen Betrachtung aller potentiellen doppelpaßspezifischen Aktionen erschließt. »Das Weltganze bzw. das Ganze der Menschheit (und im speziellen Fall: […] das eingeübte Idealbild eines überaus gelungenen Doppelpasses)« hat selbstverständlich »als Ganzes (im Akteur auf dem Rasen) noch im verunglücktesten Ansatz präsent zu sein«.
Der Doppelpaß geht nie und nimmer in die Binsen. »Sinn hat Sinn, und Doppelpaß ist Doppelpaß. Das bleibt.« Am Paradigmenwechsel vom Fußballmarxismus der siebziger Jahre zur systemtheoretischen Doppelpaßtheorie wird somit die Engstirnigkeit jeder »humanistischen Engführung des Sinnbegriffes« deutlich. Unvermeidlich mündet das »Theorem der Autokatalyse von Ordnung durch doppelte Kontingenz« im Zuge »quadrierter Kontingenz« zwischen »dem sozialen System Doppelpaß einerseits und den psychischen Systemen Burgsmüller und Bratseth […] andererseits« in das entschiedenste und abschließend »deutlich verschärfte Unmöglichkeitstheorem«, was besagt: »Doppelpässe können weder sinnlos sein, noch können sie mißlingen.«
Das nehmen wir erleichtert hin, genauso wie die Tatsache, daß »ebensowenig wie Doppelpässe […] auch systemtheoretische Analysen nicht mißlingen«, die des Professors Esser schon mal dreimal nicht.
Hinaufsteigen und Fallen oder: Fußball als Wirklichkeitskunst
Allem Anschein nach ist kein künstlerisches Genre weniger wohlgelitten als der Fußballfilm, zumindest unter seinen ersten Adressaten, den Anhängern des Spiels. »Das Verhältnis von Fußball und Film ist reichlich verkorkst«, heißt es stellvertretend in einem Beitrag der Deutschen Welle vom 17. August 2003, und der Filmhistoriker Ulrich von Berg zieht angesichts der kaum zu überschauenden Zahl von Versuchen, sich des bedeutendsten aller Sportspiele cineastisch anzunehmen, »eine imposante Schreckensbilanz«.
In Anbetracht solcher Manifestationen des Elends wie Der Theodor im Fußballtor (E. W. Emo, 1950), Libero mit Franz Beckenbauer (Wigbert Wickert, 1973), John Hustons Flucht oder Sieg aus dem Jahr 1981, einer Offenbarung der Haltlosigkeit, in der Pelé in einem Team mit Torwartmime Sylvester Stallone herumrennt, oder Wim Wenders’ – gleich der Vorlage – notorisch falsch ins Fußballfach einsortierter Handke-Verfilmung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1971/72) sowie des soapigen Schmarrens Fußball ist unser Leben (Tomy Wigand, 1999, mit, selbstredend, Uwe Ochsenknecht) hegen auch die im engeren Sinn der Seite des Sports zugewandten Experten der Zeitschrift 11 Freunde in der Titelgeschichte der Ausgabe 8/2001 den Eindruck, »als hielten sich Fußball und Film bereits seit Jahrzehnten mit einem hundslangweiligen Catenaccio in Schach«, und gelangen zu dem Schluß, daß der Fußball – mit einigen Ausnahmen aus dem angelsächsischen Raum, wo, von The Firm und When Saturday Comes bis zu Fever Pitch oder Mike Bassett – England Manager , Fußball als Metapher des Lebens verstanden wird – mit dem Film nichts am Hut habe. Bzw. umgekehrt.
Woran mag das liegen? Wim Wenders selbst hat die prekäre Diskrepanz zwischen Fußball und Film zur Sprache gebracht. »Gegen die Dramaturgie eines Fußballspiels kann man mit den Mitteln des Films nur verlieren«, gestand er und deutete die strukturelle Inkohärenz zwischen ästhetischen Verfahren und einem sportlichen Geschehen an, dem man regelmäßig genuine ästhetische Qualitäten attestiert, ohne sie, außer in Analogie zur Sphäre der Kunstproduktion und -rezeption, schlüssig beschreiben zu können. Fußball kann »Kunst« sein, ohne daß das Spiel jemals ein – geschlossenes – Kunstwerk wäre, das etwas außerhalb seiner selbst repräsentieren würde. »Kein Drama der Welt kann so übersichtlich sein wie ein Fußballspiel«, zog Marcel Reich-Ranikki nolens volens irgendwie den richtigen Schluß aus diesem Dilemma, und der meist emsig herumanalogisierende Fußballpublizist Helmut Böttiger fragte zu Recht: »Was besagt ein Shakespearescher Theatertod gegen das entscheidende Kopfballtor in der 92. Minute?«
Filmproduktionen, die sich auf die wie immer gestalterisch prononcierte Reproduktion einer speziellen Partie oder des Fußballspiels an und für sich verlegen, scheitern zuverlässig daran, daß das Spiel beeindruckender, fesselnder, größer als das Kunstwerk ist. Der Fußball, so schlicht und durchschaubar er dünkt, entzieht sich in all seinen Dimensionen – der Strategie, der Dramaturgie, der Unwägbarkeit – der Durchdringung oder Abbildung vermöge artistischer Mittel. Weil das Spiel so einfach und zugleich inkalkulabel ist, sind die aufwendigsten filmischen Gebilde, die die Illusion der realistischen Schilderung nähren, zum Mißlingen verurteilt, selbst wenn Sönke Wortmann im späten Gefolge von Robert A. Stemmles Das große Spiel (1942, Drehbuch: Stemmle und Richard Kirn), an dessen Entstehung Sepp Herberger und Fritz Walter als Berater beteiligt waren, Spielszenen mit großem Aufwand choreographiert und nachstellt. Denn die Simplizität des Geschehens auf dem Platz koaliert stets mit einer nicht zu bändigenden Komplexität, deren erschütternde Trivialität in der Herbergerschen Weisheit ihren Ausdruck gefunden hat, die Leute gingen zum Fußball, weil sie nicht wüßten, wie es ausginge. Dieses Moment von Suspense vermag kein Kunstwerk, kein Film zu erzeugen. »Der Fußballplatz, und das Sportstadium überhaupt, stellt einen der letzten Orte dar, an dem unwiederholbare Auseinandersetzungen stattfinden«, merkte der Soziologe Gerd Hortleder vor über dreißig Jahren an, und Herbert Heinzelmann hat jüngst festgehalten: »Ein Fußballspiel dauert durchschnittlich neunzig Minuten, genau wie ein Spielfilm. Ein Fußballspiel ist allerdings in dem Moment, da es angepfiffen wird, ergebnisoffen. Der Film dagegen folgt in seiner Handlung einer abgeschlossenen Dramaturgie. Deshalb ist ein Fußballspiel einem Film selbst dann noch ›überlegen‹, wenn es langweilig ist.«
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