»Grotten? Wie cool«, kommt es von Olga, und Oliver gibt die Anweisung, die Insel zu umrunden. »Wir bringen einfach selbst ein paar Viecher mit, wer weiß, ob der Grieche das hinkriegt.« Seine Sprache ist bereits etwas verwaschen.
Sie sind an der Rückseite der Insel angekommen. Kein anderes Schiff ist hier unterwegs. Niemand schwimmt im azurblauen Meer. Im Schritttempo passieren sie den steinernen Bogen, der die Einfahrt markiert, tauchen in die Kühle der Grotte ein. Meter um Meter verschwindet der wärmende Sonnenschein. Am Anfang werfen die sanften Wellen noch glitzerblaue Spiegelungen an die Felswände. Aber je weiter sie vordringen, desto farbloser wird die Welt. Die Augen müssen sich erst an die Düsternis gewöhnen. Alles erscheint grau in grau.
»Da sind wir«, ruft Artemis aus, schleudert die Flip-Flops von den Füßen und springt ins Wasser. »Kommt! Ich zeige euch, wo die Schildkröten ihre Nester haben.«
Oliver will, dass die Yacht hier ankert. Aber der Skipper weigert sich diesmal standhaft. Er könne seine Lizenz verlieren.
»Lass ihn doch fahren«, mischt sich Artemis in den Disput. »Er soll uns einfach in zwei Stunden wieder abholen. Wir amüsieren uns schon.« Sie zwinkert Oliver zu und hat ihn bereits überzeugt.
Olga braucht mehr Überredung. Aber die Aussicht, ihren Mann mit dieser Nymphe allein zu lassen, bringt sie am Ende doch dazu, sich in die Arme von Oliver fallen zu lassen, der sie – ganz Gentleman – ans Ufer trägt und vorsichtig auf ihren hohen Hacken abstellt. Gemeinsam sehen sie der Yacht zu, wie sie im Schneckentempo rückwärts aus der Grotte fährt. Nun sind sie allein.
Artemis klatscht in die Hände. »Dann wollen wir mal.« Sie zieht sich das T-Shirt über den Kopf, steigt aus den Shorts und steht im knappen Bikini vor ihnen. In Olivers Augen tritt ein lüsterner Glanz. Die Göttin hängt sich ihre Tasche quer über die Schulter und schaut die beiden auffordernd an. »Hab ich nicht gesagt, dass wir ein bisschen schwimmen müssen? Ihr habt ja sicherlich auch Badezeug unter euren Sachen an.«
»Schwimmen? Wohin?« Olga fröstelt und sieht wenig begeistert aus.
»Na, weiter in die Grotte hinein. Dort hinten sind die Nester. Habt Ihr schon mal Schildkröteneier geschlürft? Besser als jede Auster. Eine Speise für Götter!« Artemis spekuliert darauf, dass die zwei keine Ahnung haben. Eiablage in kühlen Grotten? Na klar.
Die beiden sehen sich unschlüssig an.
»Ihr werdet doch keine Angst haben, so weitgereist wie Ihr seid? Ein kleines Abenteuer peppt jeden Urlaub auf.« Artemis steigt in das niedrige Becken und spritzt neckisch etwas Wasser auf Oliver.
»Na, komm schon!«
Er knöpft sein Hemd auf.
»Du willst doch nicht wirklich da reinsteigen?« Olga fährt sich über die nackten Arme, um die Gänsehaut zu verjagen. »Mir ist kalt. Ich will hier weg.« Sie schaut zum Ausgang der Grotte, aber auch dahin müsste sie schwimmen, die Felsen werden steil in Richtung Meer, es gibt keinen Pfad, der aus der Grotte hinausführt.
Langsam geht Artemis rückwärts, weiter in die Grotte hinein, lockt Oliver mit schlängelnden Fingern hinter sich her. Er lässt sein Hemd fallen und steigt ebenfalls ins Wasser.
»Oliver«, schreit Olga, »bleib bei mir!« Aber ihr Gatte hört nicht, stattdessen folgt er Artemis, die mit kräftigen Bewegungen in die Dunkelheit schwimmt.
Mit einem Fluch schmeißt sich Olga ins Wasser und krault hinter ihnen her.
Nach einer Weile passieren sie eine Engstelle. Die kalten Wände lassen nur einen schmalen Durchgang und streichen den Dreien, als sie sich hindurchquetschen, mit eisigen Händen über die Haut. Dahinter eröffnet sich eine noch größere Kuppel. Weit über ihnen klafft ein Spalt im Felsen und Licht fällt wie sonnengelbe Fäden auf sie hinunter, lässt die nassen Steinwände funkeln.
Das Wasser wird seichter. Artemis gelangt als erste ans Ufer, steigt vorsichtig über den glitschigen Boden hinauf. Sie weiß, unter den grünen Algenflusen spitzen Muscheln mit scharfer Schale hervor. Die anderen wissen das nicht.
Kaum steht sie außerhalb des Wassers, schon hört sie hinter sich Schreie und Platschen. Olga kreischt, schon wieder, nur diesmal zu Recht. Der abschüssige Algenteppich verweigert ihr den Halt, lässt sie auf die Spitzen fallen und mit Händen und Knien über die Muschelkanten schaben. Mit Mühe kann Oliver sie nach oben, nach draußen schieben. Er selbst blutet aus mehreren Schnitten.
»Was zum Teufel machen wir hier?« Seine Stimme übertönt mit Leichtigkeit das hysterische Weinen seiner Frau.
»Ihr wolltet doch Schildkröten jagen. Hier gibt es die größten.« Artemis nimmt die Tasche von ihrer Schulter. »Aber lasst uns auf den Schreck erst einmal etwas trinken. Setzt Euch auf den Felsen.« Ohne sich um den tobenden Oliver zu kümmern, holt sie eine Flasche heraus und öffnet sie. Nach einem kräftigen Schluck hält sie das Gefäß Olga an den Mund. »Hier trinkt. Danach geht es Euch gleich besser.«
»Was … was ist das?« Hicksend und mit verweinten Augen schaut Olga zu ihr auf.
»Ein Heilmittel aus Kräutern der Insel. Mein Bruder braut das für mich. Er kennt sich aus. Artemisia und anderes. Trink ruhig. Trink.«
Vorsichtig nimmt Olga einen Schluck und verzieht das Gesicht. Artemis beobachtet sie, wartet auf die gewünschte Reaktion. Und tatsächlich: Schon nach kurzer Zeit entspannen sich die Gesichtszüge der anderen. »Das ist gut. Es tut schon gar nicht mehr weh.« Sie setzt die Flasche gleich noch einmal an.
Jetzt kommt auch Oliver näher. Sein Kopf ist rot vom Schreien, Haarsträhnen kleben an seiner Stirn. Er reißt seiner Frau die Flasche aus der Hand. Mit großen Schlucken rinnt die Flüssigkeit durch seinen Hals, der Adamsapfel springt. »Ah.« Er fährt sich mit dem Handrücken über den Mund. »Das tut gut. Was ist das?« Er sucht ein Etikett. Vergebens.
Artemis lächelt ihn an. »Artemisia, auch Wermut genannt. Ein Heilmittel. Gegen alle Art von Unbill.«
Olga robbt zu ihm, packt sein nasses Hosenbein, zieht sich hoch. »Lass mir noch etwas übrig. Gib her!« Die Flasche wechselt wieder zu ihr. Sie trinkt gierig. Manches läuft daneben, ihren Hals hinunter. Sie verschmiert die Flüssigkeit über ihrer Brust, lässt sie über die zerschnittenen Handflächen rinnen. Stöhnt.
Oliver entwindet ihr die Flasche. »Das ist nicht alles für dich, du Schnepfe.« Er legt den Kopf zurück, es gluckert laut. Der Inhalt der Flasche scheint grenzenlos.
»Was ist das?« Olga schreit auf. »Da! Lauter Krabben! Sie kommen auf uns zu! Oliver, mach sie weg!«
»Wo? Ich sehe nichts.«
»Da!« Olga springt auf und trampelt mit den Füßen. »Sie sind überall! Überall!«
»Du spinnst.« Er schwenkt die Flasche. »Ich sehe nichts. Gar nichts. Das bildest du dir nur ein.« Er nimmt einen großen Schluck. Rülpst.
Olga kreischt schon wieder. Springt herum, versucht, Krabben zu zertreten, die nur sie sieht.
Artemis gleitet zurück ins Wasser. Sie ist zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Alles entwickelt sich, wie sie es wollte. Ihre Arbeit ist getan, sie kann sich zurückziehen. In Rückenlage schwimmt sie zu der Engstelle zurück, die beiden fest im Blick. Oliver hat die Arme ausgebreitet, lallt vor sich hin und tanzt Sirtaki. Alexis Zorbas ist nichts gegen ihn. Plötzlich verharrt er. Erstarrt. Mit unsicheren Schritten fällt er zurück, bis er an die Felswand stößt. Die Flasche in der ausgestreckten Hand zittert. »Eine …eine Schild… Schildkröte. Uahhh! Riesig. Sie kommt, sie kommt auf mich zu. Sperrt ihr Maul auf. Sie will mich fressen. Was …? Hilfe! Hilfeeee!«
Artemis drückt sich durch den Spalt. Sie weiß, die beiden sind beschäftigt. Werden weiterhin beschäftigt sein. Artemisia absinthium gemischt mit ein paar Tropfen Atropa belladonna wirkt. Halluzinationen. Wahnvorstellungen. Desorientierung. Die beiden toben sich aus – und werden nie mehr ans Tageslicht finden.
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