Qualitative Methoden haben den Vorteil der Offenheit und sind deshalb besonders für innovative, unerforschte Fragen und neue Medienangebote geeignet. Darüber hinaus folgen sie dem Prinzip des Verstehens, sie eignen sich also für die intensive Ausleuchtung einer Forschungsfrage.
Wie stereotyp werden in Fantasy-Bestsellern (z. B. »Die Tribute von Panem« von S. Collins oder »Harry Potter« von J. K. Rowling) Frauen und Männer dargestellt? In dieser beispielhaften Forschungsfrage geht es um die Analyse von Buchinhalten. Die übergeordnete Problemstellung ist, dass Kinder und Jugendliche diese Romane gern lesen, dass die Bände eine hohe Reichweite in dieser Zielgruppe haben, und dass diese Bücher möglicherweise Einfluss auf geschlechtsstereotypes Denken und Verhalten haben. Um eine fundierte Aussage über die Inhalte selbst treffen zu können, kann im ersten Schritt eine Inhaltsanalyse durchgeführt werden. Im zweiten Schritt könnte dann beispielsweise experimentell die Wirkung der Lektüre ausgewählter Kapitel auf die Kinder und Jugendlichen untersucht werden.
Die Inhaltsanalyse ist ein empirisches Verfahren, dessen Ziel (1) eine systematische Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von medienvermittelten Botschaften und (2) die darauf basierende Ableitung von interpretativen Schlussfolgerungen ist (Früh, 2017; Rössler, 2017).
Bei der Inhaltsanalyse geht es zum einen darum, rein deskriptiv zu beschreiben, welche manifesten Inhalte und welche Form ein Medieninhalt hat. Ein manifester, direkt beobachtbarer Inhalt ist in unserem Beispiel möglicherweise die Häufigkeit des Auftretens von männlichen und weiblichen Charakteren und ob sie eher Haupt- oder Nebenrollen einnehmen. Zum anderen werden mit der Inhaltsanalyse auch latente Inhalte messbar. Ein latenter Inhalt ist beispielsweise, ob eher weibliche oder eher männliche Akteure in den untersuchten Geschichten die Gesprächsführung übernehmen.
Das Vorgehen der Inhaltsanalyse folgt einem wissenschaftstheoretisch durchdachten Prozess und erfolgt nach vorab festgelegten Qualitäts- und Gütekriterien. Damit wird die Inhaltsanalyse ebenso wie die anderen standardisierten Verfahren intersubjektiv (also für andere Forschende) nachvollziehbar.
Die Entscheidung für die Auswahleinheit, also das interessierende Material, erfolgt systematisch. Dazu wird das relevante Medienangebot (z. B. Fantasy Bücher), der räumliche Geltungsbereich (z. B. in deutscher Übersetzung erschienen) und der Zeitraum (z. B. 2015–dato) bestimmt (Rössler & Geise, 2013). Für die Codierer:innen werden diese Kriterien als sog. Aufgreifkriterien formuliert, durch die sichergestellt werden soll, dass die passenden Bücher in die Stichprobe gelangen. Danach werden alle Analyseeinheiten dieser Stichprobe (z. B. Kapitel, Dialoge, einzelne Aussagen) definiert und für die Analyse herausgegriffen. Wichtigstes Handwerkszeug der Inhaltsanalyse ist das Codebuch. Es enthält genaue Anweisungen, welche Analyseeinheiten ausgewählt werden und welche numerischen Codes bestimmten Ausprägungen zugewiesen werden (Codiereinheiten). In unserem Beispiel kann beispielsweise ermittelt werden, ob und wie viele Darstellungen von weiblicher oder männlicher Dominanz in einem Kapitel auftreten, von welchen Akteur:innen dominante Verhaltensweisen wie Aggression oder Anweisungen ausgehen, gegen bzw. an wen sie sich richten und welche Konsequenzen diese Verhaltensweisen haben (z. B. Belohnung, Bestrafung). Die Inhaltsanalyse macht durch Codierung die Merkmale der Medienbotschaft quantifizierbar.
Neue Perspektiven für die Medienpsychologie eröffnen automatisierte Inhaltsanalysen (Keyling, 2014; Scharkow, 2013). Sie sind der Computational Social Science zuzuordnen. Dieser Forschungsansatz basiert auf digitalen Daten, die »computational«, also mithilfe von Computern abrufbar sind (z. B. Log-Daten). Gleichzeitig werden die Daten auch »computational«, also automatisiert oder teilautomatisiert mithilfe von Algorithmen ausgewertet (vgl. im Überblick Stützer, Welker & Egger, 2018).
Die automatisierte Inhaltsanalyse ist ein Oberbegriff für Verfahren zur systematischen Erhebung und Auswertung digital vorliegender Datensätze. Die Messung, also der Codiervorgang, basiert auf einem Algorithmus, der entweder (a) explorativ Kategorien identifiziert oder (b) die Daten hypothesengeleitet nach vorgegebenen Kategorien durchsucht.
Computational Social Science und auch die automatisierte Inhaltsanalyse wird in psychologischen Studien angewendet. Beispielsweise analysierten Youyou et al. (2015) inwiefern die Likes von Internetnutzer:innen einen Rückschluss auf ihre Persönlichkeit zulassen. In einem ersten Schritt wurden Persönlichkeitstests mit den Likes der User:innen abgeglichen und nach Mustern gesucht. Dazu griffen die Autor:innen auf kurze Persönlichkeitsfragebogen, die 70 000 Facebook-Nutzer:innen auf Facebook ausgefüllt hatten, und auf die Likes dieser Personen zurück. Beides wurde den Autor:innen von Facebook zur Verfügung gestellt. Die Autor:innen entwickelten einen Algorithmus zur Identifikation von Zusammenhängen zwischen spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen und Likes. Im nächsten Schritt sagten die Autor:innen die Persönlichkeit der User allein anhand der Likes vorher. Diese Vorhersage fiel ähnlich gut, teilweise sogar besser aus als eine Vorhersage der Persönlichkeit durch Freunde oder Bekannte. Dieses Vorgehen wird in ganz ähnlicher Weise in der Markt- und Meinungsforschung und zur Aussteuerung von Werbung in Form von Behavioral Targeting verwendet.
Für die medienpsychologische Forschung sind Inhaltsanalysen von großer Bedeutung. Sie ermöglichen uns, Medien, deren Inhalte und Beschaffenheit, als »Stimuli« des menschlichen Erlebens und Verhaltens besser zu verstehen. Ein tiefgehendes Verständnis der Medienangebote ist erforderlich, um Rückschlüsse auf das Erleben und Verhalten zu ziehen. Darüber hinaus liefern vor allem automatisierte Inhaltsanalysen den Vorteil, dass sie auch die Kommunikation der Nutzenden erfassen. Ethisch bringen die Computational Methods viele offene Fragen mit sich. Können wir öffentlich verfügbare Daten zur Kommunikation der Nutzenden ohne Abstimmung und ohne ihr Einverständnis verwenden? Öffentliche Verfügbarkeit von Daten ist nicht gleichbedeutend mit dem Einverständnis der Verwendung für die Forschung. Eine ethische Debatte wird dazu zunehmend geführt (Breuer, et al., 2020; Collmann & Matei, 2016; Zimmer & Kinder-Kurlanda, 2017).
Medienpsychologische Erkenntnisse basieren auf empirischen Untersuchungen. Immer entscheidet die Qualität einer empirischen Studie darüber, welche Ergebnisse und Erkenntnisse überhaupt gewonnen werden können. Dementsprechend ist für die Interpretation von medienpsychologischen Studienergebnissen und auch Theorien bedeutsam, auf welchen Methoden sie basieren und wie gemessen wurde. In der Medienpraxis und in der Wissenschaft ist deshalb der erste Schritt vor der Verwendung eines Ergebnisses ein Blick in den »Methodenteil« des Artikels oder des Forschungsberichts.
Alle Methoden haben ihre berechtigten Einsatzgebiete, ihre Vor- und Nachteile. Im Experiment können auch weniger zugängliche Reaktionen erhoben werden, denn Medieninhalte werden in einem Stimulus dargeboten und im Vergleich zur Kontrollgruppe kann gemessen werden, ob eine spezifische Reaktion auf diesen spezifischen Stimulus erfolgt. Die Befragung wird meistens eingesetzt, wenn man Menschen zutraut, dass sie selbst Auskunft geben können, und wenn man auf eine festgelegte Grundgesamtheit schließen möchte. Psychophysiologische Methoden und Apparaturen gehen noch weiter unter die Bewusstseinsgrenze, z. B. indem Emotion und Aktivation über die Beobachtung der Gehirnaktivität, Blickbewegungen und Herzrate gemessen werden. Natürlich gibt es auch medienpsychologische Problemstellungen mit wenig bestehender Forschung und vielen offenen Fragen. Dann eignen sich besonders qualitative Verfahren. Sowohl standardisiert als auch offen und explorativ kann auch bei der Inhaltsanalyse von Log-Daten vorgegangen werden, die mithilfe von Computational Methods analysiert werden. Dazu werden die »Spuren« der Internetznutzung angesehen und ausgehend davon auf Gewohnheiten und Verhaltensmuster geschlossen.
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