1 ...6 7 8 10 11 12 ...39 Bsp. (2):T nimmt das silberne Besteck im Restaurant des O mit. – Zwar hält T dieses während des Essens in seinen Händen. Jedoch hat O in seiner räumlichen Sphäre weiterhin jederzeit die Zugriffsmöglichkeit und auch einen entsprechenden Sachherrschaftswillen, so dass er mindestens Mitgewahrsam besaß. Diesen hat T spätestens gebrochen, als er das Restaurant verließ.
28Der Gewahrsam ist im Übrigen unabhängig von den zivilrechtlichen Eigentums- und Besitzregelungenzu beurteilen. Zivilrechtlicher Besitz und strafrechtlicher Gewahrsam können zwar gleichlaufen, unterscheiden sich aber vor allem in folgenden Fällen: Der mittelbare Besitzer (§ 868 BGB) hat häufig keinen Gewahrsam; die tatsächliche Sachherrschaft wird zumeist beim unmittelbaren Besitzer liegen. Auch der (fiktive) Erbenbesitz (§ 857 BGB) begründet keine tatsächliche Sachherrschaft. Umgekehrt kann der Besitzdiener (§ 859 BGB), der selbst nicht Besitzer ist, die tatsächliche Sachherrschaft und daher Gewahrsam erlangen; je nach Sachverhaltsgestaltung kann dieser jedoch auch – ohne eigenen Gewahrsam – bloßer Gewahrsamsgehilfe bzw. Gewahrsamshüter des Geschäftsherrn sein.
29 (2)An den natürlichen Sachherrschaftswillenals subjektive Komponente werden recht geringe Anforderungen gestellt. Es genügt zunächst ein genereller Sachherrschaftswille, der nicht auf einen konkreten Gegenstand bezogen sein muss, sich vielmehr grundsätzlich auf alle Sachen erstreckt, die sich im Herrschaftsbereich bzw. in der räumlichen Sphäre des Betreffenden befinden 49. Anderes kann freilich bei Gegenständen gelten, die dem Betroffenen aufgedrängt werden und seinen Interessen zuwiderlaufen.
Bsp. (1):An einem verlorenen Geldschein in einem Ladengeschäft hat der Ladeninhaber Gewahrsam, selbst wenn er keine Kenntnis von dem Geldschein hat. Steckt die Putzfrau oder ein Kunde den Geldschein ein, so liegt daher Diebstahl (§ 242) und nicht lediglich Unterschlagung (§ 246) vor. Entsprechendes gilt für andere in Behördengebäuden, Stadthallen, Gaststätten, öffentlichen Verkehrsmitteln usw. liegen gebliebene Gegenstände.
Bsp. (2):O vergisst nach dem Abheben am Bankautomaten das Geld aus dem Ausgabefach mitzunehmen. Bevor es wieder eingezogen wird, greift T erfreut zu. – Das Geld war für T eine fremde bewegliche Sache; es stand weiterhin im Eigentum der Bank (mangels Übergabe keine Übereignung an O). Auch der Gewahrsam stand der innerhalb der Bank zuständigen natürlichen Person zu, da das Ausgabefach des Bankautomaten deren Gewahrsamssphäre zuzuordnen ist 50. Dieser Fall kann ersichtlich nicht anders behandelt werden, wie wenn der Kunde außerhalb eines Abhebungsvorgangs am Automaten Geld liegen lässt oder verliert 51.
30Es wird ferner kein ständig aktualisiertes Herrschaftsbewusstseingefordert, so dass auch ein Schlafender oder Bewusstloser – selbst wenn dieser vor seinem Tod nicht mehr aus der Bewusstlosigkeit erwacht – weiterhin Gewahrsam haben kann 52. Auch Kinder können den natürlichen Herrschaftswillen haben. Der Sachherrschaftswille endet erst mit dessen Aufgabe oder durch Tod des Gewahrsamsinhabers.
31Da nur natürliche Personen einen Herrschaftswillen bilden können, kommen juristische Personennicht als Gewahrsamsinhaber in Betracht 53. Wenn etwas unpräzise vom Gewahrsam eines Unternehmens, eines Warenhauses, einer Behörde usw. gesprochen wird, ist damit der Gewahrsam (und damit auch der Gewahrsamswille) der jeweils zuständigen Person (z. B. Geschäftsinhaber, Behördenleiter, Organ oder sonst beauftragte Person) gemeint 54. Nimmt eine solche Person einen Gegenstand mit, so scheidet – sofern nicht Mitgewahrsam eines Dritten besteht – § 242 aus. In Betracht kommt eine Strafbarkeit nach § 246 Abs. 1 und 2 sowie nach § 266.
32 (3)Die Beurteilung der Gewahrsamverhältnisse kann bei der Beteiligung mehrerer Personenkompliziert sein, weil hier neben dem Alleingewahrsam einer Person auch ein gleichrangiger oder mehrstufiger Mitgewahrsamanderer Personen in Betracht kommt, der mitunter von diffizilen Erwägungen abhängig gemacht wird.
Klausurhinweis:Für Klausuren ist nicht entscheidend, dass die unzähligen Fallkonstellationen auswendig gelernt werden, sondern anhand der verschiedenen Kriterien argumentiert wird.
33Bevor auf Einzelheiten dieser Gewahrsamsverhältnisse eingegangen wird, soll die Bedeutung dieser Einteilung verdeutlicht werden: Steht die Sache im Alleingewahrsamdes Täters, so scheidet § 242 immer aus, da in diesem Fall kein fremder Gewahrsam gebrochen wird; in Betracht kommt nur eine Strafbarkeit nach § 246. Hat der Täter hingegen selbst keinen Gewahrsam an der Sache und wird fremder Gewahrsam – sei es Alleingewahrsam, sei es Mitgewahrsam – gebrochen, so ist § 242 verwirklicht, wenn die weiteren Voraussetzungen vorliegen. Steht die Sache im Gewahrsam von mehreren Personen, so spricht man von Mitgewahrsam. Nehmen alle Mitgewahrsamsinhaber einverständlich die Sache weg, so liegt kein Gewahrsamsbruch vor. Gleichrangigen Mitgewahrsam(z. B. unter Ehegatten) kann jeder Mitgewahrsamsinhaber brechen und damit § 242 verwirklichen 55. Mehrstufiger Mitgewahrsamkann nur „von unten nach oben“ und nicht „von oben nach unten“ gebrochen werden. § 242 kann daher nur derjenige verwirklichen, der untergeordneten Mitgewahrsam, nicht aber derjenige, der übergeordneten Gewahrsam hat 56. Mehrstufiger Mitgewahrsam kommt vor allem in Dienst-, Arbeits- und Auftragsverhältnissen in Betracht 57. Bei genauer Betrachtung ist die Figur des untergeordneten Gewahrsams (und damit zugleich diejenige des übergeordneten Gewahrsams) jedoch entbehrlich. Man kann in diesen Fällen im Wege einer normativen Betrachtung ebenso gut davon ausgehen, dass der Geschäftsherr (Allein-)Gewahrsam besitzt, der von seinem Angestellten usw. oder einem Dritten gebrochen werden kann 58.
Bsp.:Die Mitnahme eines Computers durch den Geschäftsinhaber ist – unabhängig davon, ob dieser Alleingewahrsam oder übergeordneten Mitgewahrsam hat – nicht tatbestandsmäßig; nimmt dagegen der Auszubildende (auch mit untergeordnetem Mitgewahrsam) das Gerät mit, kann § 242 verwirklicht sein.
34Diese abstrakten Grundsätze sollen anhand einiger wichtiger Fallgruppenexemplarisch verdeutlicht werden, wobei darauf hinzuweisen ist, dass bereits kleine Änderungen des Sachverhalts zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung des Gewahrsamsverhältnisses führen können.
35Bei verschlossenen, aber transportablen Behältnissen(z. B. Geldkassette, Koffer) hat regelmäßig derjenige Alleingewahrsam am Inhalt, der auch die Sachherrschaft am Behältnis hat. Der Schlüsselinhaber oder Codeinhaber hat nach h. M. insoweit keinen Mitgewahrsam, da er keinen Einfluss auf das Schicksal der Sache hat. Eine Ausnahme wird man aber zulassen müssen, wenn dieser weiß, wo sich das Behältnis befindet und er ungehinderten Zugriff auf das Behältnis und damit den Inhalt hat 59. Ist das Behältnis fest mit einem Gebäude verbunden bzw. kann es nur mit großen Anstrengungen fortgeschafft werden (z. B. Wand- oder Stahltresor, Automaten), wird man entgegen der h. M. nicht Alleingewahrsam des Schlüsselinhabers 60, sondern Mitgewahrsam desjenigen anzunehmen haben, der die räumliche Sphäre beherrscht. Dies wird vor allem in Fällen deutlich, in denen dem Schlüsselinhaber der Zugang zu den Räumlichkeiten nicht ohne weiteres möglich ist 61.
36An verlorenen Gegenständen, bei denen der ursprüngliche Gewahrsamsinhaber nicht weiß, wo sie sich befinden, hat er keinen Gewahrsam mehr 62. Denn in diesem Fall besteht mangels Kenntnis von der Belegenheit der Sache keine faktische Einwirkungsmöglichkeit. In fremder räumlicher Sphäre kann allerdings ein Dritter – geht man von dessen generellem Sachherrschaftswillen aus – aufgrund seiner Einwirkungsmöglichkeit nunmehr Alleingewahrsam erlangen.
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