Nachdem das Essen zu Carlottas Zufriedenheit auf dem Tisch arrangiert war, zwinkerte sie Pellegrini verschwörerisch zu und verschwand. Spagnoli hob die Augenbrauen, doch er zog es vor, so zu tun, als habe er nichts bemerkt, und nahm sich eine focaccia mit Zwiebeln.
»Mori hat sie als eher klein beschrieben, aber selbst wenn sie kräftig genug wäre, passt das zusammen?«, fragte er kauend. »Eine junge Frau mietet sich bei einem Fremden ein. Nehmen wir an, er wird zudringlich. Und dann?«
»Sie wehrt sich, dabei demolieren sie den gesamten Wohnraum. Sie erwürgt ihn und bringt ihn danach wie eine besorgte Mamma ins Bett. Dann verlässt sie die Wohnung, und am nächsten Tag ruft sie uns an, damit wir nach ihm sehen.«
Pellegrini las in Spagnolis Gesicht, dass sie dasselbe dachte wie er: »Der Anfang und das Ende ergäben Sinn. Er bedrängt sie, sie kriegt Angst, wehrt sich, bekommt ihn unglücklich zu fassen, drückt ihm die Luft ab. Aber davon stirbt keiner. Außerdem würde ich erwarten, dass sie in Panik davonläuft. Ihr Gepäck vergisst, die Tür offen stehen lässt. Und ihr Opfer verdammt noch mal nicht ins Bett bringt!«
Spagnoli nickte nachdenklich.
Pellegrini zuckte mit den Schultern. »Was sind das für Leute, die sich über Airbnb Zimmer mieten? Sich freiwillig Bad und Küche mit den Gastgebern teilen? Ich habe noch nie dieses Bedürfnis verstanden, sich mehr als nötig mit Wildfremden einzulassen.« Ihm reichte schon die Erinnerung an seinen Wehrdienst, als sie zu sechst in einer Bude schlafen und die Waschräume mit dem ganzen Flur teilen mussten.
»So was kannst auch nur du sagen.« Spagnoli prostete ihm zu.
»Wie meinst du das?«
»Soweit ich mich erinnere, führt deine Familie einen gut gehenden Albergo da oben in Brunate. Du hast dir noch nie Sorgen um Geld machen müssen. Dazu hat deine Franca gute Kontakte zu den besten Hotels der Welt.«
»Sie ist nicht meine Franca.«
»Fliegt ihr nicht ständig mit Francas Bonusmeilen in den Urlaub? Und habt ihr nicht letzten Herbst in diesem Fünfsternehotel am Campo de’ Fiori in Rom übernachtet?«
»Komm mal zurück zur Sache.« Pellegrini fand den Ton, den Spagnoli anschlug, entschieden zu vertraut.
»Du kannst es dir leisten, in schicken Hotels abzusteigen, beziehungsweise hast die Kontakte. Airbnb-Übernachtungen sind wahnsinnig günstig, Marco. Ich habe das letzten Sommer während meiner Motorradtour auf Sizilien auch gemacht. Du hast eine riesige Auswahl, und anders als Hostels oder Campingplätze sind die Wohnungen häufig sehr zentral gelegen. Und meistens sind die Gastgeber nette Leute. Ich hatte noch nie Pech.«
»Ist das nicht naiv und gefährlich?« Er verkniff sich gerade noch den Nachsatz vor allem für junge allein reisende Frauen . Spagnoli reagierte auf solche Kommentare gern ungehalten und warf ihm Chauvinismus vor. Nichts lag ihm ferner, doch nicht einmal Fakten und Statistiken konnten sie umstimmen, wenn sie erst mal in Fahrt war.
»Das kommt drauf an.« Immerhin blieb ihr Tonfall dieses Mal nachsichtig. »Seriöse Portale machen umfassende Identifikationschecks. Sich die Bewertungen anderer Gäste anzusehen, schadet auch nicht.«
»Mori hat erzählt, dass Pescatori eine Menge Gäste hatte, vor allem weibliche.«
»Da hast du es. Ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass er übergriffig geworden ist. Das hätte sich in seinen Bewertungen bemerkbar gemacht, da bin ich mir sicher.«
»Was nicht ausschließt, mit dem einen oder anderen Gast etwas anzufangen, sofern alle Beteiligten damit einverstanden sind.«
Spagnoli grinste. »Alles kann, nichts muss. Pescatori sah ja ganz passabel aus, der hat sicherlich nichts anbrennen lassen.«
Pellegrini brummte zustimmend und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Seine Arbeit brachte ihm immer wieder Erkenntnisse, auf die er verzichten konnte. Eine fremde Wohnung zu betreten, gar zu durchsuchen, förderte nie nur Dinge zutage, die für die Ermittlungen relevant waren, sondern auch viele kleine und große Geheimnisse, von denen er nichts wissen wollte.
Er versuchte sich vorzustellen, er würde auf einer Reise bei einer attraktiven Frau übernachten, die ihm dann eindeutige Angebote machte. Würde er sich darauf einlassen? Er vermochte es nicht zu beantworten. Sicher war er sich dagegen, dass er sich nicht freiwillig in so eine Situation begeben, sondern zuerst nach der billigsten Pension suchen würde, in der es ein Einzelzimmer mit Tür gab, eine klare Grenze zwischen seinem Bett und der Außenwelt. Aber das musste letzten Endes jeder für sich entscheiden.
»Gut«, sagte er. »Ich kümmere mich weiter um Danbi. Ich habe noch ein oder zwei Ideen, wo sie sein könnte. Wenn ich sie nicht finde, können wir nur auf die Fahndung hoffen.« Er streckte sich und trank aus. »Was wissen wir sicher? Ivan Pescatori, zweiundzwanzig Jahre, studiert Mathe, wohnt in einer riesigen Wohnung und vermietet zeitweise sein Arbeitszimmer unter. Keine Freundin, aber ein Mädchen, das ihm irgendwie nahesteht. Nebenjob bei einer Art Marketingagentur.«
»Die Familie ist aus Sondrio, der Vater Teamleiter bei einer Molkerei, die Mutter Altenpflegerin. Eine jüngere Schwester, die noch zur Schule geht.«
»Sein bester Freund zieht mit ihm nach Como, obwohl er lieber in einer Großstadt studiert hätte. Mori scheint Pescatori nahegestanden zu haben. Wie es umgekehrt aussah, können wir nur vermuten.«
Spagnoli beugte sich ein wenig vor. »Du sagtest, er wäre neidisch gewesen auf Pescatoris Geld und seine Bekanntschaften. Könnte es auch Eifersucht gewesen sein?«
»Weiß nicht, eher nicht. Und wenn? Ergibt sich daraus ein Motiv? Jetzt, nachdem sie sich seit Jahren kennen?«
Spagnoli lehnte sich wieder zurück und zupfte an ihrer Unterlippe.
»Sein Arbeitgeber beschreibt ihn als selbstständig und zuverlässig.«
»Die Nachbarn bezeichnen ihn als höflich und ruhig. Ich werde mich heute Nachmittag an der Uni umhören. Es würde mich wundern, wenn ich etwas anderes erfahre, als dass er ein netter Kerl war. Freundlich und unauffällig.«
Pellegrini merkte auf. »Zu glatt? Zu angepasst?«
»Was sagt dein Bauchgefühl, Commissario?«
Er zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe den Eindruck, dass wir in eine völlig falsche Richtung denken. Bisher erscheinen mir zwei Möglichkeiten plausibel: Entweder war sein Tod nicht beabsichtigt, sondern ein Unfall, eine Folge des Kampfes. Oder jemand ist mit der festen Absicht in die Wohnung eingedrungen, ihn zu töten, und auf Gegenwehr gestoßen. Ich hoffe sehr, dass El Gato Hinweise für eine der beiden Varianten findet.«
»Oder für eine dritte oder vierte.«
»Danke. Du machst mir Hoffnung.«
»Gern geschehen.« Spagnoli setzte ihre Sonnenbrille auf und erhob sich.
Pellegrini winkte Carlotta, die im Türrahmen lehnte und ihre Aufmerksamkeit gerecht zwischen den Gästen auf der Terrasse und ihrem telefonino aufteilte.
»Ich fahre noch einmal in die Wohnung und sehe mir die Fotos an, die über dem Schreibtisch hängen. Dieser Sini von der Agentur hat erwähnt, dass Pescatori viel fotografiert hat. Sag bitte Cunego, dass er sich um die Zugangsdaten der Social-Media-Accounts kümmern soll, wenn er mit den Nachbarn fertig ist. Wo immer Pescatori aktiv war. Cunego oder du, einer sollte für morgen eine Fahrt nach Mailand einplanen und den beiden Ingenieuren von Alessǎndro einen Besuch abstatten. Vermutlich führt das zu nichts, aber wir sollten das sauber ausschließen.«
Er zahlte und wollte sich von Spagnoli verabschieden, als ihm auffiel, dass sie nichts mehr gesagt hatte, sondern wie unbeteiligt neben ihm stand. Er zog sein Jackett an und wischte eine nicht vorhandene Fluse von der Anzughose. Als sie immer noch schwieg, hob er auffordernd die Augenbrauen. Befehlskette , sagte sein Blick. Anweisungen von oben hatte man zu folgen, auch wenn sie noch so unangenehm waren. Pellegrini hasste diese Momente, in denen er den Chef heraushängen lassen musste. Andererseits hatte er wirklich Besseres zu tun, als sich mit den Befindlichkeiten seiner Kollegen zu befassen. Cunego wollte keine Anweisungen von Spagnoli entgegennehmen, geschweige denn sich mit ihr absprechen. Immerhin gab ihr der höhere Dienstrang nun Rückendeckung, und das wusste auch Cunego – weshalb er es ihr vermutlich noch schwerer machen würde.
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