Meinem Vater
Manche Menschen glauben an das Schicksal, andere nicht. Ich glaube daran und auch wieder nicht. Manchmal hat man das Gefühl, wie Marionetten, von Fäden an unsichtbaren Händen, bewegt zu werden. Dazu sind wir aber sicherlich nicht geboren. Wir können die Fäden selbst in die Hand nehmen und die Richtung unseres Weges an jedem Scheideweg selbst bestimmen oder wenigstens jede Spur, einem unbekannten Ziel entgegen, verfolgen.
Die folgenden Seiten erzählen die Geschichte eines jungen Mannes, der wie an eine Wand gedrückt zu sein schien, bis er seine Schicksalsfäden selbst in die Hand nahm. Wenn ich heute diese Geschichte, die ich damals geschrieben habe, lese, weiß ich, daß es der entscheidendste Augenblick meines Lebens war, als ich - eine eingefleischte Landratte, aufgewachsen voller Angst vor dem Wasser, wenn es höher als bis zu meinem Hals reichte - sämtliche Fäden und Bindungen zum Festland ein für allemal zerriß, um die größten und tiefsten Gewässer der Welt anzusteuern. Mein ganzes Leben veränderte sich, nachdem ich endlich fremden Abenteuern und einer unbekannten Zukunft entgegensegelte. Von da an bis zum heutigen Tag war mein Leben voll von Abenteuern, die man wie Perlen einer Kette aneinanderreihen könnte. Perlen fallen nur selten aus der Austernschale auf den Teller - man muß nach ihnen tauchen. Abenteuer nur um des Abenteuers willen war zwar nie mein Fall, doch ich gehe noch heute keinem Abenteuer aus dem Wege, das sich mir bietet.
Ich bin als ein wohlbehütetes Kind aufgewachsen - ein Träumer. Während meiner Universitätsjahre betrieb ich Studien über Mensch und Tier. Während ich an der Universität Oslo offiziell Zoologie studierte, galt meine Vorliebe schon sehr bald den Völkern des Stillen Ozeans, deren Geschichte ich in der Kroepelin-Bibliothek [1] Heute der Kon-Tiki-Museumsbücherei angegliedert.
- der Welt größten privaten Bibliothek über Polynesien - eifrig studierte. Und ich - ein Bücherwurm, der nicht schwimmen konnte - ging nach Polynesien und lebte dort ein Jahr lang auf einer Dschungelinsel, vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Die Abenteuer auf Fatu-Hiva werden auf den folgenden Seiten nur kurz erwähnt, da ich sie an anderer Stelle näher beschrieben habe. [2] T. Heyerdahl, Fatu-Hiva, Back to Nature, London, New York, 1974; A. Jacoby, Senor Kon-Tiki, Chicago, 1964.
Ich ging nach Polynesien, um herauszufinden, wie Tiere mit Wind und Strömung auf die Ozeaninseln gekommen waren. Ich kam nach Hause mit einer umstrittenen Theorie darüber, wie Menschen diese Inseln in der vorgeschichtlichen Zeit erreichen konnten. Es gab zwei mögliche Seewege nach Polynesien: von Asien über Nordwestamerika und von Südamerika direkt nach Polynesien.
Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Reise von sechs jungen Männern, die - allen Voraussagen von Wissenschaftlern und Seefahrern trotzend - bewiesen haben, daß eine solche Reise in vorgeschichtlicher Zeit möglich gewesen ist. Das südamerikanische Balsaholzfloß, von dem Gelehrte behaupteten, es müsse sinken, wenn es nicht regelmäßig an Land getrocknet würde, blieb unsinkbar wie ein Korken. Und Polynesien, das man vom alten Amerika aus mit einem Wasserfahrzeug für unerreichbar hielt, erwies sich als ein durchaus erreichbares Ziel für die Ureinwohner Perus. Das Kon-Tiki-Floß wurde zurück nach Oslo gebracht, wo es ein ganzes Jahr lang im Hafen herumschwamm. Dann wurde es an Land gezogen und als Hauptsehenswürdigkeit im Kon-Tiki-Museum aufgestellt, das unter der Leitung von Knut Haugland, der mit auf der Reise war, erbaut worden ist.
Wie hat nun die Wissenschaft auf den erbrachten Beweis dafür, daß sie im Unrecht gewesen ist, reagiert? Unter den ersten, die nachgaben und die neue Theorie akzeptierten, war der weltweit führende Experte auf dem Gebiet vorgeschichtlicher Wasserfahrzeuge in Peru, Dr. S. K. Lothrop von der Harvard-Universität; er hatte ein falsches Urteil über Balsaholzflöße in der wissenschaftlichen Literatur verbreitet. Die Reaktion der Weltöffentlichkeit auf die Kon-Tiki-Fahrt jedoch wurde von all den Wissenschaftlern, die sich in ihren eigenen Arbeiten und Thesen auf Lothrop berufen hatten - aufgrund der Überzeugung, daß Balsaflöße sinken - als Hohn empfunden. In allen Teilen der Welt wurden die »wagemutigen Wikinger« angegriffen und eines PropagandaUnternehmens, ohne jeglichen wissenschaftlichen Wert, bezichtigt. Das allgemeine Interesse wuchs mit der Polemik; das Buch über die FloßExpedition wurde ein Bestseller, in 65 Sprachen übersetzt, und der Dokumentarfilm darüber wurde mit einem »Oscar« ausgezeichnet. Es folgte ein jahrelanger Streit, da sich die Wissenschaftler weigerten, die Argumente der »Kon-Tiki-Theorie« anzuhören. Die erste Herausforderung kam von der »Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie«, die mich aufforderte, dort meinen Standpunkt zu vertreten - mit dem Ergebnis, daß ich meine erste wissenschaftliche Auszeichnung erhielt. Weitere folgten, erst Schottland, dann Frankreich. 1952, fünf Jahre nach der Floßfahrt, war ich endlich in der Lage, mein 800 Seiten umfassendes Buch American Indians in the Pacific, The Theory Behind the Kon-Tiki-Expedition, zu veröffentlichen.
Im selben Jahr erfolgte eine noch größere Herausforderung seitens der Opposition: Eine Einladung, drei Vorlesungen auf dem 30. internationalen Amerikanistik-Kongreß an der Universität Cambridge zu halten. Die Opposition blieb stumm, und als der nächste Kongreß in Brasilien stattfand, nahm ich als Ehren-Vizepräsident daran teil. Aber die Auseinandersetzungen gingen weiter. Es wurde behauptet, die Galapagosinseln würden den Gegenbeweis zu der »Kon-Tiki-Theorie« liefern. Die Inseln liegen näher an Südamerika als irgendeine andere polynesische Insel. Warum waren sie nicht von Südamerikanern besiedelt worden, wenn diese schon den Mut gehabt hatten, den ganzen Weg bis Polynesien zu wagen? Eine neue Herausforderung, der neue Studien an Bibliotheken folgten.
Viele Gelehrte haben - seit Darwin - die Galapagos-Inseln besucht; Zoologen, Botaniker, Geologen, doch kein einziger Archäologe. Keiner hatte es für sinnvoll gehalten, auf Inseln, so weit vom Festland entfernt, nach frühen menschlichen Spuren zu suchen. Alle Besucher waren davon überzeugt, daß keine Menschenseele diese Inseln gesehen hatte, bevor die ersten Europäer 1535 hier landeten. Nachdem ich bewiesen hatte, daß die Balsaholzflöße der Inkas seetüchtig waren, brachte ich 1953 die ersten zwei Archäologen auf die Galapagos-Inseln: E. K. Reed (USA) und A. Skjölsvold (Norwegen). Sie untersuchten das Gelände an den wenigen Stellen, an denen eine Landung vorgeschichtlicher Flöße zwischen Lavaklippen und Felsen möglich gewesen wäre. Man entdeckte vier prähistorische Lagerplätze auf drei Inseln. Aus der trockenen Erde der Kaktuswälder scharrten die Wissenschaftler folgende Gegenstände hervor: eine vogelförmige Inka-Terrakotta-Flöte, drei schwarze Tonfrösche aus der Vor-Inka-Periode, einen primitiven Spinnwirtel aus Speckstein, Obsidiane, Feuersteine und Scherben von 131 zerbrochenen, aus der Urzeit stammenden Gefäßen, von denen 44 von Experten des Nationalmuseums in Washington als Gegenstände aus der Vor-Inka-Zeit identifiziert wurden. Zahlreiche Besucher aus dem vorkolumbianischen Peru und Equador hatten auf den unfruchtbaren Galapagos-Inseln kampiert, doch eine dauerhafte Besiedlung war nicht möglich gewesen, da - bedingt durch die wenigen Regenfälle - nur jährlich kurze Zeit Trinkwasser vorhanden war.
Die am nächsten gelegene bewohnbare Insel war die Osterinsel, auf halbem Weg zwischen Südamerika und Polynesien. Die kolossalen Statuen und Steinmauern unbekannten Ursprungs waren nach Aussagen der polynesischen Bevölkerung Überreste früherer Bewohner. Gelehrte glaubten, daß diese Insel keineswegs von Urvölkern hatte erreicht werden können, da sie am weitesten von Asien entfernt war. Wie aber, dachte ich mir, konnten die Urbewohner der Osterinsel Zeit gehabt haben, diese erstaunliche prähistorische Kultur zu entwickeln und sie später wieder vergessen; eine Kultur, die immerhin sämtliche Gelehrte in Erstaunen setzte, da sie so große Ähnlichkeit mit der Vor-Inka-Kultur und deren Überbleibsel aufweisen konnte?
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