Dino Minardi
Der tote Carabiniere
Pellegrinis zweiter Fall
Roman
Kampa
Für meinen Papa
Freitag, 2. Oktober
Un caffè al banco
Ein unerwartet kalter Wind empfing Commissario Marco Pellegrini vor der Tür seines Hauses und fegte ein paar Papierfetzen zu einem Kreisel zusammen. Pellegrinis Blick wanderte die Straße hinab, in der nebelige Fetzen wie unstete Gestalten entlanghuschten, und dann gen Himmel. Es war nicht auszumachen, ob die Finsternis von der frühen Tageszeit oder den düsteren Wolken herrührte. Es sah sogar ganz danach aus, als könnte es jederzeit regnen, und die Prognosen für das Wochenende waren nicht viel besser. Zu dumm, dass er seinen Regenschirm letztens in der Questura liegen gelassen hatte.
Pellegrini zog die Haustür hinter sich zu, schlug den Mantelkragen hoch und setzte sich mit langen Schritten in Bewegung. Die Räder seines Trolleys surrten hinter ihm her, ein einsames Geräusch zwischen den eng stehenden Häusern Brunates. In kaum einem Fenster brannte Licht, die meisten seiner Nachbarn schliefen noch. Pellegrini war selbst selten so früh unterwegs. An sehr heißen Sommertagen konnte es passieren, dass ihn die Hitze im Schlafzimmer seiner Dachgeschosswohnung im Morgengrauen aus dem Bett trieb. Dann joggte er durch die stillen Straßen hinunter zum See, schwamm ein paar Runden und fuhr mit der Standseilbahn wieder hinauf. Aber warum sollte man um diese Jahreszeit früher als nötig das Haus verlassen?
Nach nur wenigen hundert Metern wiesen breite Lichtstreifen in der nebeligen Suppe ihm den Weg. Die bodentiefen Fenster der Bar della Funicolare waren hell erleuchtet. Pellegrini erkannte eine Handvoll Männer aus der Nachbarschaft am Tresen, dazu zwei Fremde. Die erste Bahn würde erst in zwanzig Minuten hinab nach Como fahren, Zeit genug für einen caffè , um munter zu werden.
Wärme empfing ihn, kaum dass er die Bar betreten hatte, Kaffeearoma, vermischt mit dem Zitrusduft eines Putzmittels, schlug ihm entgegen, dazu dudelte Musik aus dem alten Radio im Regal, zu leise, um das Lied oder den Sänger auszumachen.
» Ciao , Marco, padrone !«, tönte es ihm entgegen. Paolo schwenkte ein Küchentuch und grinste ihn an, unverschämt gut gelaunt für diese Tageszeit. »Du bist viel zu früh dran.«
Pellegrini lächelte. » Salve , Paolo. Ich bin nicht der padrone , das weißt du ganz genau.« Er nickte den anderen Gästen zu, die freundlich zurückgrüßten, und stellte den Trolley in eine Ecke.
»Ist mir egal, was du sagst, du wirst den Laden eines Tages übernehmen. Ich weiß das. Caffè ?« Ohne die Antwort abzuwarten, hielt Paolo bereits den Siebträger in der Hand und wandte sich der Kaffeemühle zu.
»Mach einen doppelten, Barista.«
»Signorsì!«
Pellegrini beugte sich weit vor und schielte über den Tresen. »Liegt hier ein Regenschirm, den ich mir leihen kann?« Er musste sich beherrschen, nicht einfach hinter die Theke zu gehen. Paolo schätzte das ganz und gar nicht, wobei er es dem Sohn des Hauses kaum verbieten konnte. Die einzige Ausnahme machte er morgens gegen halb acht. Dann verzog er sich meistens ins Lager und überließ Bar und Espressomaschine Pellegrini, der üblicherweise um diese Zeit auftauchte und sich gern selbst einen caffè machte.
»Momento.« Paolo tauchte ab und kramte in den Regalen. »Nein, tut mir leid. Ich kann rüber ins Hotel und an der Rezeption nachsehen.«
»Lass nur, danke. Ich muss die erste Bahn nehmen. Meine Kollegin holt mich unten an der Station ab. Wir fahren nach Bergamo.«
»Welche Kollegin? Claudia Spagnoli?« Paolo hob vielsagend die Augenbrauen.
Die Kaffeemühle brummte und knirschte.
Pellegrini lächelte breit. »Mach dir keine Hoffnungen. Sie ist seit ein paar Wochen vergeben. An jemanden, gegen den du vermutlich keine Chance hast. Einen Capitano der Guardia di Finanza.«
»Ach, es gibt genug schöne Frauen.« Paolo warf theatralisch den Kopf in den Nacken, ließ eine fließende Drehung folgen, die einem Profitänzer zur Ehre gereicht hätte, und stellte Pellegrini den caffè vor die Nase.
Marco zupfte ein Tütchen aus der überdimensionalen Tasse, die auf der Theke stand, und ließ braunen Zucker über die Crema rieseln. Er rührte nur kurz um und trank den caffè in einem Zug aus. Heiß und bittersüß rann ihm der Schluck durch die Kehle – perfetto.
»Paolo, du bist ein Virtuose.«
»Ach, übertreib nicht. Mit guten Bohnen und dieser bellezza «, er tätschelte die Espressomaschine, »kann man doch kaum etwas falsch machen.«
»Das stimmt nicht«, warf ein älterer Mann ein, den Pellegrini nicht kannte. Der staubigen grauen Kleidung mit gelben Reflektorstreifen nach war er Straßenarbeiter. »Wenn die alte Signora Pellegrini hier ist, schmeckt er nicht so gut.« Er wandte sich Pellegrini zu. »Mit Verlaub, Signore.«
Umberto Rovelli, der stämmige Inhaber der Metzgerei in Brunate, schnalzte mit der Zunge. »Dagegen kann dich der caffè von Valentina in Ekstase versetzen. Ich frage mich immer, wie sie das macht.«
»Das Auge trinkt eben mit.« Pellegrini wandte sich Paolo zu, der die leeren Tassen einsammelte und in Windeseile in die Spülmaschine räumte. »Auch in dieser Hinsicht hast du das Nachsehen, caro .«
Pellegrini wollte ihn nur ärgern. Paolo war Anfang fünfzig, ging jedoch mit seiner sportlichen Figur und der passenden Kleidung für gut zehn Jahre jünger durch. Einzig der beginnende Haarausfall machte ihm etwas Sorgen, wie er Pellegrini einmal anvertraut hatte, doch davon sah man bisher kaum etwas.
Der Barista strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht. »Das werden wir ja sehen. Ich werde jeder donna , die heute kommt, mein strahlendstes Lächeln schenken. Die amerikanischen Touristinnen lieben mich.« Er schlug sich mit schmachtendem Blick die Hände vor die Brust.
»Einverstanden. Gute Laune ist immer gut fürs Geschäft.«
Pellegrini griff nach dem Trolley und wandte sich zum Gehen. »Ich empfehle mich fürs Wochenende!«
Ein Mann im Anzug, mit hellblauem Hemd und Krawatte ließ ein paar Münzen auf die Marmorplatte klimpern, griff nach seinem Aktenkoffer und seinem Mantel. Pellegrini hielt ihm die Tür auf und bemerkte beiläufig einen dunklen Fleck am linken Ärmel, als der Mann an ihm vorüberging. Der Straßenarbeiter folgte ihnen. Eine Staubwolke stieg aus seiner Kleidung auf, als er die Bar verließ. Pellegrini unterdrückte ein Niesen.
Er war bereit für den neuen Tag, dabei hatte er sich den caffè nicht einmal selbst machen dürfen. Merkwürdig, wie sehr er diese Kleinigkeit seiner morgendlichen Routine vermisste. Stattdessen blieb ihm nur ein letzter sehnsüchtiger Blick zurück auf die freundlichen Lichter der Bar.
Der Arbeiter steckte beide Hände in die Taschen seiner weiten Arbeitshose. »Wenn das so weitergeht mit dem Wetter, werden wir vor dem Winter nicht mehr fertig.«
Niemand antwortete ihm. Pellegrini war kein Morgenmuffel, aber um diese Uhrzeit mit Fremden über das Wetter plaudern war doch zu viel des Guten. Eine Stunde später kam er auf Touren: Sieben Uhr, das war seine Zeit.
Schweigend betraten sie die Station der funicolare . Die Bahn stand schon bereit, die Türen der roten Waggons waren geöffnet. Knapp ein Dutzend Personen hatte sich Sitzplätze gesucht. Niemand stand an den bodentiefen Frontscheiben, die normalerweise einen sagenhaften Blick über den Comer See boten. Pellegrini trat ans Fenster. Da war kein See, nicht einmal kleine Lichtpunkte der Straßenlaternen oder Häuser unten in der Stadt, nur bleigraues waberndes Nichts und dahinter Dunkelheit. Der Himmel schien sich bis auf das Wasser herabgesenkt zu haben.
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