Er beugte sich tiefer über das Seil, das still und unbewegt dalag, und leuchtete daran entlang. Winzige Stofffetzen klebten am Metall, dunkle Flecken. Zwischen den Gleisen entdeckte Pellegrini eine Fingerkuppe, mehrere verbogene Metallstücke. Er erhob sich, jeder weitere Schritt fiel ihm schwer. Der Nebel hatte ihn nicht getrogen, dort lag ein einzelner Arm.
Einige Meter weiter fand er den Körper des Unglückseligen zwischen den Schienen verkantet. Die Bahn hatte ihn erfasst und einige Meter bergab geschoben, bis der Körper die Weiterfahrt endgültig blockiert hatte – was durchaus beachtlich war, denn der Hang war steil, und die Bahn hatte ordentlich Schub. So oder so, es war nur zu hoffen, dass derjenige zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen war.
Einen abgerissenen Finger konnte ein Mensch überleben, einen abgerissenen Arm vielleicht auch noch. Aber das hier? Die Person lag auf dem Bauch, Pellegrini konnte ihr Gesicht nicht sehen. Das silbergraue Haar am Hinterkopf war blutverkrustet. Pellegrini schluckte gegen das Gefühl an, keine Luft mehr zu bekommen. Er verstand, warum der junge Bedienstete der Bahn sich hatte übergeben müssen. Pellegrini konnte seine Übelkeit normalerweise ganz gut in Zaum halten, doch er hatte sich bis heute nicht an den Anblick verstümmelter Leichen gewöhnt, obwohl er schon einige schreckliche Unfälle gesehen hatte. Nicht erst, seitdem er für die glücklicherweise eher seltenen Morde in Como zuständig war, vielmehr hatte seine Zeit bei der Verkehrspolizei ihm alles abverlangt.
Allmählich konnte er wieder durchatmen. Er leuchtete die gespenstische Szenerie mit der Taschenlampe ab. Und dann begriff er mit einem Schlag, warum der junge Mann »Carabiniere« gesagt hatte. Das Opfer trug die dunkelblaue Uniform der Einheit. War das hier ein tragischer Unfall oder steckte mehr dahinter?
Pellegrini blickte sich um. Immer noch war die Welt um ihn herum still und verlassen. Hier konnte er nicht mehr viel ausrichten. Das war Sache der Spurensicherung und der Rechtsmedizin. Dennoch nahm er sich, wie es seine Gewohnheit war, einen Moment und blickte intensiv auf den Toten, versuchte, ihm die Achtung entgegenzubringen, die jedem Menschen gebührte. Versuchte zu verstehen, wieso dieses Leben auf tragische Weise früher als nötig zu Ende gegangen war. Die Uniformjacke war zerrissen und dreckig. Der Statur nach war das Opfer eindeutig männlich, aufgrund der ergrauten Haare vermutlich schon älter. An seinem verbliebenen Arm trug er eine Uhr, deren Zifferblatt zerbrochen war. Pellegrini verharrte und schaute genauer hin. Er kannte diese Uhr, oder nicht?
Seine Beklemmung kehrte zurück. Aber nicht, weil die Szenerie ihn abermals an einen Horrorfilm erinnerte, sondern weil er etwas vorhatte, für das die Spurensicherung ihn vermutlich vierteilen wollen würde. Allerdings hatte die Bahn, die den Körper vor sich hergeschoben und teilweise überfahren hatte, schon mehr Schaden verursacht, als er jemals anrichten konnte. Der ursprüngliche Unfallort lag etliche Meter weiter oben am Hang. Pellegrini musste Gewissheit haben, und zwar sofort. Er gab sich einen Ruck und beugte sich über den Körper. Unendlich vorsichtig schob er zwei Finger unter den Aufschlag der Uniformjacke.
Wenn Pellegrini sich nicht irrte, trug der Mann für gewöhnlich ein paar lose Münzen in der Hosentasche, mit denen er seinen caffè an der Theke der Bar della Funicolare zahlte. Sein Portemonnaie steckte in der linken oberen Brusttasche, vermutlich seit über vierzig Jahren und damit länger, als Pellegrini alt war.
Seine Fingerkuppe streifte brüchiges Leder. Er zog das Portemonnaie vorsichtig heraus und klappte es auf. Ein Dienstausweis. Ein altes Foto, der Mann darauf gut zwanzig Jahre jünger, als er heute war – zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war.
Pellegrini ließ den Kopf hängen. Das Portemonnaie entglitt seinen Händen und fiel neben den toten Salvatore Bianchi. Warum es dort lag, würde er später erklären.
In der Station wimmelte es von Menschen, Blaulicht flackerte in den Himmel. Vor der Treppe hielt Pellegrini kurz inne. Nach der Stille am Hang waren seine Sinne von dem Lärm und der Hektik einen langen Moment überfordert. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass es einen Unfall mit einem Toten gab, denn vor der Station, deren Zugänge geschlossen worden waren, drängten sich trotz der frühen Stunde Schaulustige. Auf beiden Bahnsteigen liefen Carabinieri, Männer von der Betreibergesellschaft der Bahn und einige Anzugträger herum. Dazwischen blitzten die roten Jacken der Croce Rossa Italiana auf. Der junge Enrico saß mit einer Decke über den Schultern auf einer Bank und wurde von zwei Sanitätern versorgt. Ispettrice Spagnoli stand vor dem Eingang der Bahnstation, rauchte und beobachtete das Treiben aus einiger Entfernung. Sie trug trotz der Kälte nur einen schwarzen Blazer über einer weißen Bluse und Jeans. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Ihr Anblick tat Pellegrini unterwartet gut, was vielleicht auch daran liegen mochte, dass sie die einzige Frau weit und breit war und ganz unaufgeregt mit einem Mann im Anzug sprach, während alle anderen um sie herum fruchtbar beschäftigt und wichtig taten. Wenn Pellegrini sich nicht täuschte, war ihr Gesprächspartner der Fremde, mit dem er zuvor die Bar verlassen hatte.
Er warf einen letzten Blick zurück auf die Gleise, die bergab im Nebel verschwanden. Wie war Bianchi dorthin gelangt? Es war möglich, aber ziemlich aufwendig, von der Seite an die Trasse zu klettern. Der einfachste Weg wäre von der Bahnstation aus, aber dort wären außerhalb der Betriebszeiten Gittertore und Metallzäune zu überwinden. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass er von der Brücke gestürzt oder sogar gestoßen worden war? Pellegrini wandte sich wieder zur Treppe und stieg hinauf. Es war müßig, darüber zu spekulieren, das Team von der Spurensicherung würde sicherlich eine Antwort finden.
Er kam gerade mal zwei Schritte von der Metalltreppe weg.
»Halt! Wo kommen Sie her? Was machen Sie hier?«
Er fuhr herum und starrte wütend auf die Hand, die sich fest auf seine Schulter gelegt hatte. Sein Gegenüber dachte nicht daran, ihn loszulassen. Pellegrini begegnete einem strengen Blick unter dichten Brauen und schielte auf die Schulterklappe. Ein Sottotenente der Carabinieri. So einer hatte ihm gar nichts zu sagen.
Rüde schob er die Hand weg und rückte seinen Mantel zurecht. »Commissario Pellegrini. Die beiden Männer der funicolare haben mich gebeten, nach unten zu gehen. Dort liegt ein toter Mann.«
»Ein Carabiniere.«
»So ist es.« Pellegrini stockte. »Salvatore Bianchi aus Brunate.« Wie seltsam, da hatte er Bianchi Tausende Male in Uniform gesehen, konnte sich jedoch nicht an seinen Dienstgrad erinnern. Vielmehr sah er in Gedanken den gewaltigen Schnurrbart und das gutmütige Lächeln.
Der Sottotenente verschränkte die Arme vor der Brust. »Was fällt Ihnen ein, da einfach runterzugehen? Das ist ein Tatort! Hat man Ihnen denn gar nichts beigebracht?«
»Ein Tatort? Dann gab es Fremdverschulden? Vielleicht eine Amok laufende Bergbahn?«
»Sind Sie noch ganz bei Trost?«
»Nicht weniger als Sie. Ich verstehe nicht, warum Sie von einem Tatort sprechen. Bisher ist es der Fundort einer Leiche.«
Der Sottotenente griff sich an den Schirm seiner Mütze und rückte sie zurecht. »Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen Auskünfte zu erteilen. Ich hoffe für Sie, dass Sie da unten nichts angestellt haben, was unsere Arbeit behindern könnte. Und jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen, Sie haben hier nichts zu suchen. Falls wir Fragen haben, melden wir uns.« Er wedelte mit der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.
Pellegrini klappte den Mund auf und wieder zu. Alles in ihm strebte danach zu widersprechen, obwohl er wusste, dass sein Gegenüber recht hatte. Die Spurensicherung stand vor einer beachtlichen Herausforderung, und er hatte ihnen die Arbeit nicht gerade leichter gemacht. Außerdem hatte ihn niemand gerufen, er war nur zufällig vor Ort gewesen, hatte keinen Ermittlungsauftrag. Wenn er es ganz genau nahm, hätte er – Aufforderung des Bahnbediensteten hin oder her – besser nicht sofort nachgesehen, sondern erst einmal Fragen gestellt. Dann hätte er festgestellt, dass keine Gefahr in Verzug gewesen war, niemand in Not. Es wäre klüger gewesen, auf die Kollegen zu warten.
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