Die Multidimensional Family Therapy (MDFT) (Liddle 2002) ist ein Beispiel für die Integration systemtherapeutischer, verhaltenstherapeutischer, sozial-ökologischer und entwicklungspsychologischer Ansätze. Störungen werden im Kontext verschiedener Einflussfaktoren verstanden und deren Reduktion in verschiedenen sozialen Kontexten und mit verschiedenen Mechanismen über multiple Pfade angestrebt. Es werden individuelle Faktoren (z. B. Kognition, Emotionsregulation; Geschwister-, Eltern-Kind-, Paar-Beziehung, elterliches Erziehungsverhalten; psychosoziale Belastung), innerfamiliäre Beziehungsqualitäten (z. B. emotionale Unverbundenheit) und bedeutsame außerfamiliäre soziale Kontexte (z. B. Schule, Arbeitsplatz, Peers, Strafbehörden) einbezogen. Nach Exploration der Symptomatik werden neue Kommunikations- sowie Problemlösefähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten für emotionale Erfahrungen im direkten Kontakt mit wichtigen Systemmitgliedern zur Reduktion sozialer Negativität und Verbesserung der Beziehungsqualität vermittelt. In vier Modulen werden die Jugendlichen, Eltern, familiäre Interaktionen und extrafamiliäre Beziehungen adressiert und über die Therapie hinweg zu einem größeren Ganzen der beschriebenen Symptomatik und ihrer Lösungsmöglichkeiten integriert.
2.2.2 Psychologische Ansätze in Systemaufstellungen
Die Systemaufstellungen (
Kap. 5.6.5
) sind ein gutes Beispiel für die Verflechtung klassischer psychologischer Theorien in systemtherapeutischen Interventionen. Die vier Dimensionen Zugehörigkeit, Bezogene Individuation, Einklang und Zuversicht des Fragebogens zum Erleben in sozialen Systemen (EXIS) (Hunger et al. 2017), der v. a. der Evaluation von Systemaufstellungen dient (
Kap. 10.2.2
), basieren auf Grundsätzen (Sparrer und Varga v. Kibèd 2008) sowie Ordnungsprinzipien (Schneider 2006; Weber 1993) (
Kap. 1.4.3) von Systemaufstellungen und finden sich in Erfahrungsberichten von Aufstellungsteilnehmenden besonders salient (Rogers 2010, Schneider 2006, Sparrer 2006) (
Kap. 10.2.3). Zugehörigkeit und Bezogene Individuation (
Kap. 1.1.2) verkörpern die beiden ersten und wichtigsten Prinzipien, die in sozialen Systemen wirken. In ähnlicher Weise werden Zugehörigkeit und Bezogene Individuation in der Psychologie als zwei fundamental menschliche, kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Motivationen beschrieben. Als übergeordnetes Metaprinzip in Systemaufstellungen gilt, dass Neues nur Erfolg haben kann, wenn das, was ist bzw. sich nicht ändern lässt, auf intra- wie interpersoneller Ebene akzeptiert wird. Dieses Metaprinzip wird gegenwartsgerichtet im Erleben von Einklang und zukunftsbezogen im Erleben von Zuversicht in sozialen Systemen beschrieben. Einklang gilt in der Psychologie als ein Zustand, in dem sich die Interessen von Personen so zueinander verhalten, dass sie i. S. von Selbstakzeptanz und Akzeptanz anderer nicht widersprüchlich einander gegenüberstehen. Zuversicht ist ähnlich dem Zukunftsvertrauen, Zukunftsglauben und der Zukunftsperspektive das feste Vertrauen auf eine gute zukünftige Entwicklung.
Im Unterschied zu den anderen Psychotherapieverfahren verlangt die Systemische Therapie einen Paradigmenwechsel: vom individuumszentrierten Ansatz hin zu einem systembezogenen Ansatz und vom kindzentrierten Modell (v. a. Kinder- und Jugendhilfe, -psychiatrie und -psychotherapie) sowie erwachsenenzentrierten Ansatz (v. a. Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalytische Psychotherapie) hin zu einem Therapierational, in dem alle wichtigen Akteurinnen und Akteure in ihrer Beteiligung an der Entwicklung, Aufrechterhaltung und Veränderung einer Störung innerhalb eines betroffenen sozialen Systems gleicher Maßen wertgeschätzt und als Expertinnen und Experten ihrer Lebensgestaltung mit gleichen Rechten und Pflichten in den Therapieprozess einbezogen werden. Dabei wird schon jetzt klar: Systemische Therapie ist mehr als nur ein Treffen mehrerer Personen: es braucht eine spezifische Erkenntnistheorie (
Kap. 1,
Kap. 3), Diagnostik (
Kap. 4), therapeutische Haltung, Beziehungsarbeit, Interventions- und Settinggestaltung (
Kap. 5,
Kap. 8,
Kap. 9,
Kap. 11). Insofern ist die Systemische Therapie von der Vielzahl paar- und familientherapeutischer Ansätze abzugrenzen, die zwar ebenfalls im Mehrpersonensetting, jedoch nicht systemtherapeutisch arbeiten, wie z. B. die Cognitive Behavioral Couple Therapy (CBCT) (Epstein und Zheng 2017). Darüber hinaus wurden bereits originär systemtherapeutische Interventionen, wie z. B. die Symptomverschreibung (
Kap. 5.6.3
) im Verhaltenstherapiemanual (Hand 2011), von anderen Psychotherapieverfahren integriert, jedoch ohne Bezugnahme zur systemtherapeutischen Erkenntnistheorie. Die Positive Konnotierung (
Kap. 5.6.1
) erscheint technisch der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Umstrukturierung verwandt, jedoch ist die systemtherapeutische Haltung (
Kap. 9) fundamental verschieden. Einen Überblick wesentlicher Merkmale der Störungstheorie und Therapieziele der Systemischen Therapie in Abgrenzung zu anderen Psychotherapieverfahren gibt Tab. 2.1 (
Tab. 2.1).
Tab. 2.1: Wesentliche Merkmale psychotherapeutischer Grundorientierungen (modifiziert nach Strauß 2021)
Störungstheorie
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