Ich hab nicht mal ein Smartphone, antwortete ich.
Wir haben ein altes iPhone, das du benutzen könntest, wenn es mit deinem Tarif funktioniert.
Ich log, als ich sagte, dass ich es mir ansehen würde. Ich wollte ihm nicht sagen, dass meine Eltern niemals zustimmen würden.
Seit dem Picknick war die Stimmung zwischen meinen Eltern und mir aus verschiedenen Gründen angespannt, aber es dauerte nicht lange, bis Emmet das Zentrum unserer wiederkehrenden Diskussionen wurde. Sie hatten gesehen, wie ich auf dem Straßenfest mit ihm gesprochen hatte, und hatten auf dem Nachhauseweg nach ihm gefragt, aber ich hatte größtenteils abgewunken. Ich wusste, dass Emmet lieber bei sich zu Hause war, also trafen wir uns dort und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich im Haus der Washingtons auch wohler. Als ich am dritten Tag in Folge von einem Besuch nach Hause kam, war ich froh, ihn nicht zu mir eingeladen zu haben und ich schwor mir, dass eher die Hölle zufrieren würde, als dass ich es tun würde.
»Wo warst du?«, fragte meine Mom, als ich zur Tür reinkam. »Ich hab den ganzen Garten abgesucht, aber du warst nirgends zu finden. Bist du wieder auf den Gleisen gelaufen?«
Kurz zog ich in Erwägung, zu lügen, aber es fühlte sich falsch an, über Emmet zu lügen. »Ich hab einen Freund besucht.«
»Bart?« Die Haltung meiner Mutter änderte sich vollständig. Sie lächelte und ihre Schultern sanken leicht herab, als würde die Welt langsam wieder in die richtige Bahn kommen. »Ich wusste nicht, dass ihr euch wieder trefft. Wie geht's ihm?«
Jetzt wünschte ich mir, meinem ersten Impuls gefolgt zu sein und sie anzulügen. »Es ist nicht Bart. Ein neuer Freund.« Ich sah, wie sich die Frage auf ihrem Gesicht abzeichnete, die Verurteilung und Kritik an Emmet, und entschied, sie in die Falle zu locken. »Er studiert im zweiten Jahr an der ISU. Doppelter Studiengang in Informatik und moderner Physik.« Vielleicht war es auch angewandte Physik. Es war mir egal – modern klang besser.
Sie hielt inne, geschlagen in ihrem eigenen Spiel. »Ein Universitätsstudent, hier? So weit weg vom Campus? Gibt es ein Mietshaus in der Gegend?«
»Nein. Er wohnt bei seinen Eltern. Sollte ich auch machen, um Geld zu sparen. Und wir wohnen ziemlich nah an der ISU, wenn man durch den Park geht.« Ich beschloss, wirklich dick aufzutragen. »Er ist wahnsinnig intelligent. Programmiert zum Spaß an seinem Computer herum.«
»Oh.« Mom entspannte sich und schien beruhigt zu sein, dass ich einen anständigen Freund gefunden hatte, der mich wieder auf Kurs bringen konnte. »Wie heißt er? Ich kann nicht glauben, dass ich nichts über einen Jungen in deinem Alter hier in der Gegend wusste.«
Junge? Wie alt war ich denn, zwölf? »Emmet Washington«, sagte ich und sah, wie sie sich anspannte.
»Jeremey Andrew Samson.« Sie überbrückte die Distanz zwischen uns und schwebte bedrohlich über mir. »Es ist schrecklich von dir, über einen behinderten Jungen zu lügen. Was machst du mit ihm? Babysitten?«
Umgehauen von ihrer Bosheit und Kaltschnäuzigkeit blinzelte ich sie an – außer, dass sie nicht gemein war. Sie war wirklich ahnungslos. »Mom, er hat die Höchstpunktzahl in seinem Collegetest. Er hat wirklich zwei Hauptfächer. Ich passe nicht auf ihn auf. Ich treffe mich mit ihm. Er ist nicht behindert und du solltest dieses Wort ohnehin nicht mehr benutzen.«
Sie verdrehte die Augen. »Komm mir jetzt nicht mit dieser blöden politischen Korrektheit. Behindert heißt zurückgeblieben. Du kannst mir nicht erzählen, dass der Junge normal ist.«
Nein, das konnte ich nicht – aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass er um einiges normaler war als ich.
Emmet hatte seine Macken, ja, aber er hatte einen Pragmatismus, den ich nicht nur bewunderte – ich fand ihn beruhigend. Nicht zuletzt wusste ich bei Emmet immer, woran ich war. Wenn er etwas nicht machen wollte, sagte er es. Wenn ihm etwas wichtig war, ließ er es mich wissen. Außerdem war er freundlich – ihm fielen Dinge an mir auf, von denen ich nie erwartet hatte, dass sie jemand bemerken würde, und für ihn waren die Dinge, die ich an mir am seltsamsten fand, ein Teil dessen, wer ich war.
Das beste Beispiel dafür war der Tag, an dem wir zu Wheatsfield liefen, dem Bioladen am Ende der Straße. Emmets Mutter brauchte noch ein paar Zutaten für das Abendessen und Emmet hatte gefragt, ob wir die Besorgungen für sie machen konnten.
»Wie lieb von dir, es anzubieten, Emmet. Danke.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich hole die Einkaufsliste und den Trolley.«
Ich weiß nicht warum, aber ich war lächerlich aufgeregt, mit ihm einkaufen zu gehen. Wir waren schon vorher um den Block spaziert, meist am Abend, wenn es kühler war, aber zusammen einzukaufen war so häuslich und erwachsen. Das war kein einfaches Wir hängen zusammen ab-Einkaufen. Wir halfen beim Abendessen, zu dem ich schon vorher eingeladen worden war. Diese ganze Episode hatte dafür gesorgt, dass ich mich als Teil der Familie fühlte. Eine wirkliche Familie. Eine gute.
Kaum hatten wir begonnen, die Straße entlangzugehen, hielt Emmet inne. »Nein. Dir gefällt es innen.« Er schob mich ans andere Ende des Gehwegs, auf die Seite, die den Häusern am nächsten war. »Du wirst nervös, wenn du zu nah an der Straße bist.«
»Werde ich das?«
»Ja. Du zuckst zusammen, wenn ein Auto vorbeifährt. Das machst du zwar auch auf der Innenseite, aber da bist du entspannter.«
Ich hatte keine Ahnung, dass ich das tat. Wie vielen anderen Menschen war das bisher aufgefallen? »Das wusste ich nicht. Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Aber du musst innen sein, also nimm nicht die Außenseite.«
Den Rest des Weges sprachen wir nicht miteinander, aber wir redeten ohnehin nie viel, wenn wir liefen. Ich nutzte die Zeit, um nachzudenken und die Zeit mit ihm zu genießen. Außerdem war es lustig herauszufinden, was er zählte. Ich hatte gelernt, dass er immer irgendetwas zählte, wenn er so still war. Während unserer Spaziergänge hatte ich ihn so oft gefragt, dass er es mir nun einfach sagte, wenn wir an unserem Ziel ankamen.
»Neunhunderteinunddreißig Risse im Bürgersteig«, verkündete er, als wir am Laden ankamen. Er schob den bunten Trolley vor sich her, in dem wir laut Marietta die Einkaufstasche transportieren würden. »Einhundertvierundzwanzig Unregelmäßigkeiten. Achthundertsieben gerade Linien.«
»Risse im Gehweg? Die hast du doch sicher schon früher zwischen eurem Haus und dem Laden hier gezählt.«
»Ja. Aber heute waren vier neue dabei.«
Ich fragte mich, wie es sein musste, ein Gehirn zu haben, das so viele Dinge zählte. Ich glaubte, dass es ermüdend sein musste, aber Emmet genoss es.
Ich wollte ihn mehr über die Risse fragen, doch dann betraten wir den Laden – und trafen auf eine Wand aus Lärm.
Ich war schon in diesem Laden gewesen und hatte genossen, dass er so klein war, hatte mich jedoch noch nie hierhin verirrt, wenn eine Live-Band in der Ecke spielte. Der Laden war voller Menschen, die redeten und lachten, während sie einkauften. Ich lachte nicht. Ich wollte nur wegrennen. Es fühlte sich an, als würde jemand immer und immer wieder ein Becken gegen meinen Kopf schlagen. Das Atmen fiel mir schwer.
Ich schämte mich so sehr – ich hatte vor Emmet eine Panikattacke.
Und dann hatte ich sie ganz plötzlich nicht mehr. Zumindest waren die Becken verschwunden und ich atmete schwer, aber wir waren draußen und Emmet setzte mich auf eine Bank.
Ungeschickt berührte er mein Gesicht. »Im Laden ist es zu laut.«
»Es tut mir leid«, versuchte ich zu sagen, keuchte jedoch eher.
Er drückte meinen Kopf zwischen meine Knie und legte seine warme Hand auf meinen Rücken. »Atme tief ein. Geh in deinem Kopf an einen glücklichen Ort.«
Er war so ruhig und logisch, dass es mich ehrlich gesagt teilweise aus meiner Attacke hinausschreckte. Es dauerte eine Minute, bis ich mich wieder vollständig unter Kontrolle hatte, aber so schnell hatte ich mich schon lange nicht mehr in den Griff bekommen.
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