Das Rauschen unter der Choreographie

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Stil ist beschreibbar als Modus des Bezugnehmens auf die Welt, als relationale Funktion, die Körper und Bewegungen in ihren historischen, gesellschaftlichen und (kultur-)politischen Situierungen sichtbar macht. Die Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe nannte in ihrer Poetik des zeitgenössischen Tanzes Stil den Subtext, den wahren Text, «den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört». Die Beiträge des Bandes untersuchen, wie sich «Stil» im Tanz und auf der Bühne manifestiert und welche Funktion der heute im Alltagsleben, in Mode und Design allgegenwärtige Begriff im Diskurs über Tanz und Theater übernimmt.

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Das Rauschen unter der Choreographie

Überlegungen zu »Stil«

Katja Schneider

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

2018 Narr Francke Attempto Verlag GmbH Co KG Dischingerweg 5 D72070 - фото 1

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de• info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ePub-ISBN 978-3-8233-0153-0

Einleitung

Unter der choreographischen Sprache höre man den wahren Text rauschen, den Subtext, den die französische, 2012 verstorbene Kritikerin und Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe als »Stil« bezeichnete.1 Doch geht sie in dem mit »Stile« überschriebenen Kapitel in ihrer Poetik des zeitgenössischen Tanzes weniger auf Roland Barthes’ »Rauschen der Sprache« ein als vielmehr auf die Effort-Theorie Rudolf von Labans, die sie als Modus des Bezugnehmens auf die Welt erläutert. Stil, für Louppe, manifestiere sich als etwas Unfassbares, »Vages und Ungreifbares«2, als etwas, »was der Zuschauer am unmittelbarsten wahrnimmt, was am schnellsten auf seine Sensibilität einwirkt. […] Er begnügt sich damit, die Wege zu bestimmen, durch die wir den ›Kern‹ der Bewegung erfassen werden.«3 Stil, so Louppe weiter, trägt »als Gesamtheit der Beziehungs-Dispositionen des Körpers die gesamte Botschaft des Tanzes in sich, in einem Infra-Text, dessen Lektüre berücksichtigt werden muss.«4

Louppes dringliche Formulierung motivierte dazu, über einen Begriff nachzudenken, der weder in der Theater- noch in der Tanzwissenschaft aktuell eine bedeutende Rolle spielt. Ganz im Gegenteil zu seiner Verwendung im Bereich der Lebensformen und Alltagsgestaltung, die seit Mitte der 1980er Jahre zu beobachten ist.5 Dieser Trend inflationärer Benutzung scheint ungebrochen.6 Hingegen beziehungsweise zumindest scheint »die ›große Erzählung‹ der stilgeschichtlichen Historiographie« am Ende zu sein, wie Wolfgang Brückle konstatiert.7 Entsprechend sind Publikationen, die sich generell mit Stil beschäftigen, in den letzten Jahren nicht sehr zahlreich.8 Tanzspezifisch widmet sich neben Louppe noch Geraldine Morris explizit dem Stil, und zwar dem des britischen Choreographen Frederick Ashton9.

In der Theaterwissenschaft ist der Stil-Begriff ein eher heikler. Nikolaus Müller-Schöll fasst in seinem Eintrag »Stil« die Problematik zusammen: »Der Bestimmung von St. wirkt praktisch entgegen, dass an jeder Inszenierung viele, einander häufig wechselseitig in Frage stellenden Akteure beteiligt sind. Daneben stößt jeder solche Versuch auf den Zufall und die sog. ›äußeren‹ Umstände im Theater.«10 Als Ausweg erscheint hier der Versuch, mit Roland Barthes’ »drittem Sinn« zu argumentieren, so Müller-Schöll, und dem Wandel des Theaters vom Schauspieler zum Performer Rechnung zu tragen:

Im Rahmen der neuen Aufgabe eines Tuns im Beisein von Gästen oder Teilnehmern (statt eines Vorstellens oder Spielens vor Publikum) werden traditionelle Formen der Stilbildung in der Gestaltung einer Rolle, eines Charakter etc. durch solche ersetzt, die an die je singuläre Besonderheit des einzelnen Performers gebunden sind, etwa an seinen spezifischen Tonfall, seine Stimmlage, seine Physiognomie, seine persönlichen Phantasmen und Einschränkungen.11

An die »Singularität des Darstellers«12 ist eine solche Stil-Skizzierung ange­lagert. Welche weiteren Optionen vorstellbar sind, Stil für zeitgenössisches Theater und zeitgenössischen Tanz produktiv zu machen – darum geht es in diesem Band. Wir zielen nicht in erster Linie auf eine neue Bestimmung von Stil (schon gar nicht eine abschließende), sondern wollen Stil als Suchfigur entfalten. Für unterschiedliche Gegenstände und für unterschiedliche historische Phänomene mit dem Zugriff von heute.

Zu den Beiträgen:

»Wer sich heute (noch) mit dem Stilbegriff beschäftigt«, zitiert Sabine Huschkain ihrem Beitrag »Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis« den Literaturwissenschaftler K. Ludwig Pfeiffer, »gerät schnell in einen eigentümlichen Schwebezustand«. Mit ihm bestimmt Huschka Stil als schwer fassbaren Begriff und ästhetischen Denkraum und zeichnet mit Laurence Louppe Rudolf von Labans Effort-Theorie nach, in der die zentrale Frage nach der Sichtbarkeit von Stil verhandelt wird. Hier macht Huschka – am Beginn des Bandes – deutlich, dass Laban Stil als Wissen um Bewegungsqualitäten konzipiert. Weiter zeigt sie, dass Stile an Umbruchstellen wahrnehmbar werden und führt das an Auguste Vestris aus, einem markanten Tänzer des späten 18. Jahrhunderts, der von tradierten Vorstellungen, wie zu tanzen sei, abwich und die normativen Grenzen der Rollenfächer verschwimmen ließ. Da dieser Rahmen für heutige Choreograph*innen kaum mehr eine Rolle spielt, so Huschka, hat der Stilbegriff an Bedeutung verloren, zugunsten hybrider Bewegungs- und Tanztechniken und der kritischen Reflexion biopolitischer und theatraler Vorgaben für den tanzenden Körper.

Nicht nur im Tanz ist der Bedeutungsverlust des generischen Stils zu diagnostizieren. Auch in bildender Kunst, Schauspiel und Architektur wandelt sich der Stilbegriff. Stil geriet in eine Krise, die mit dem Schwund der Legitimation von künstlerischer Tradition und tradiertem Handwerk zusammen gesehen werden muss. An die Stelle des generischen Stils tritt ein Personalstil. Dem grundlegenden Zusammenhang von Individualisierung und Technik geht Wolf-Dieter Ernstim Rückgriff auf den Soziologen Ulrich Beck in seinem Beitrag »Stil, Technik und Risiko – eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze« nach. In den Fokus rücken Theaterprojekte wie Disabled Theatre von Jérôme Bel und die Dombauarchitektur sowie Fragen nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen, welche die Entwicklung technischer und stilistischer Merkmale bestimmen, ermöglichen oder verhindern sowie nach den Regeln, die Stil zu- und umschreiben oder auch verweigern.

Am Stadttheater Osnabrück kamen in den vergangenen Jahren Rekonstruktionen von Mary Wigmans Le Sacre du Printemps und von ihren zwei Totentänzen heraus. Maßgeblich daran beteiligt war die Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin Patricia Stöckemann, die im Gespräch mit Thomas BetzStil im Ausdruckstanz diskutiert. Der lässt sich trotz Individualitätspostulat dieses »Neuen Tanzes« schwer fassen. Technisch und was die Qualitäten anlangt, hat Rudolf von Laban mit seiner Raumharmonielehre (Choreutik) und seiner Ausdruckslehre (Eukinetik) ein umfassendes System von Bewegung(smöglichkeiten) formuliert, auf dessen Basis dann zahlreiche Tanzschaffende der Epoche arbeiteten, speziell Labans Schüler*innen und Mitarbeiter*innen, zu deren prominentesten Mary Wigman und Kurt Jooss zählen.

Evelyn Annußuntersucht in ihrem Beitrag »Bewegungs- als Regierungskunst: Zum ›tänzerischen Stil‹ Hanns Niedecken-Gebhards« eine bewegungschorische Avantgarde-Ästhetik in ihrem grundlegenden Wandel von der Führungspraktik (im Thingspiel) zur Selbstlenkungspraktik (im ornamentalen Stadionspiel). Die propagandistische Form tänzerischen Regierens reperspektiviert Annuß als Stilfrage der Tanzproganda biopolitisch, »um die gesellschaftlichen Tiefendimensionen einer Bewegungskunst der Massen der Zwischenkriegszeit zu erkunden und die grundlegenden Kräfteverschiebungen zu skizzieren«. Die, so Annuß’ These, auf zeitgenössische Regierungstechniken im Foucault’schen Sinn verweisen, auf deren Dispositive, Wandel und Fortleben.

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