In den Augen der Rezensenten und gebildeten Zeitgenossen verkörperte Auguste Vestris ebenso wie sein Zeitgenosse Salvatore Viganò3 auf nahezu beängstigende Weise ein brillierendes Virtuosentum, das die ästhetischen Prämissen eines einfühlsamen Gestentanzes des ballet en action sprengt. So werden im 18. Jahrhundert zunehmend jene performativen Leistungen einzelner Tänzer und Tänzerinnen bedeutsam, die eine empfindungsvolle Gestalt verkörperten. Jean Georges Noverre schätzte in seinen zahlreichen Berichten über zeitgenössische Tänzer und Tänzerinnen jene, die »frei von aller Affekthascherei« tanzten – wie etwa Marie Sallé (1707–1756), eine Tänzerin der danse sérieuse an der Pariser Opéra der 1730er:
Mlle. Sallé, a most graceful and expressive dancer, delighted the public. […] I was enchanted with her dancing. She was possessed of neither the brilliancy nor the technique common to dancing nowadays, but she replaced that showiness by simple and touching graces; free from affection, her features were refined, expressive and intelligent. Her voluptuous dancing displaced both delicacy and lightness; she did not stir the heart by leaps and bounds.4
Sallé verkörperte einen spezifisch einfühlsamen Duktus, dessen Leichtigkeit nicht dominiert wurde von technischen Raffinements aus kunstvollen jétés , battus und entrechats , wie es dem Tanzstil ihrer Zeitgenossin Marie Carmago nachgesagt wurde.5
Demgegenüber übertritt Vestris’ Tanzstil die seit Mitte des 18. Jahrhundert etablierten Rollenfächer des Bühnentanzes mit ihren klaren dramaturgischen, tanztechnischen und physischen Differenzen. Als eigenständige Darstellungsbereiche wurde eine dem Tragischen zugeordnete danse sérieuse unterschieden von einer dem Komischen zugezählten danse comique und einem komisch-tragischen Tanzstil der danse demi-caractère .6 Die bewegungstechnische Virtuosität von Vestris, die den erhabenen und heroischen Duktus einer danse sérieuse ( danse noble ) mit den verspielten, eher ausgelassenen Bewegungen einer danse comique und dem leichten Duktus der danse demi-caractère amalgamierte, ließ die normativen Grenzen der Tanzfächer verschwimmen. Vestris’ bewegungstechnischer Übertritt kennzeichnet zwar nicht einen regelrechten Tabubruch innerhalb des ästhetischen Gefüges des Bühnentanzes, da sein Tanzen erkennbar im technischen Kodex des Balletts verwurzelt war, aber seine Auftritte verschoben die Kriterien für eine tänzerische Darbietung im Sinne des ballet en action .
Stil als Arbeit an Erkenntnis
Der Stil ist keineswegs, wie manche glauben, ein Mittel der Verschönerung, ja er ist nicht einmal ein technisches Problem, er ist vielmehr – genau wie die Farbe für die Maler – eine Art des Sehens und Imaginierens ( une qualité de la vision ), die Enthüllung des partikularen Universums, das jeder von uns sieht, und das die anderen nicht sehen. Das Vergnügen, welches uns ein Künstler schenkt, liegt darin, daß er uns ein weiteres Universum kennenlernen läßt.
(Marcel Proust)1
Die Frage nach dem Stil hat für den Tanz inzwischen als ästhetischer Reflexionsdiskurs an Gewicht verloren. Dies ist sicherlich – wie bereits dargelegt – auf einen Verlust einer tanztechnisch identifizierbaren Grundlegung ästhetischer Positionen zurückzuführen, die stilistische Differenzen tragen. Zugleich spiegelt sich der begriffsgeschichtliche Wandel von Stil als ästhetischer Reflexionsraum der Kunst wieder, den Gumbrecht historiographisch nachgezeichnet und dem Bohrer mehrere Essays gewidmet hat.2 Würde man einige der einschlägigen historischen Stildiskurse aufgreifen, mit denen Stil als ein menschliches Vermögen (Buffon), als die künstlerische Kompetenz, das Wesen der Dinge zu erkennen (Johann Wolfgang von Goethe),3 oder als das künstlerische Vermögen zur Visionierung ›anderer Welten‹ (Marcel Proust) aufgefasst werden, so ließe sich die ästhetische Arbeit einiger zeitgenössischen Choreograph*innen (etwa Laurent Chétouane oder Margrét Sara Guðjónsdóttir) als eine stilprägende Arbeit an einem Erkenntnisvermögen der Tanzkunst diskutieren, über sensitiv eingestimmte Körper ein ›weiteres Universum‹ wahrnehmen zu lassen. Eine solche Untersuchung wäre sicherlich lohnend.
Stil, Technik und Risiko – eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze
Wolf-Dieter Ernst
Im Kunstdiskurs ist von Stil traditionell in Hinsicht auf zwei Aspekte die Rede: die fertige, erkennbare Form eines Werkes und seine Herstellungsweise, häufig auch als die Herstellungstechnik bezeichnet. Richard Wollheim etwa spricht von einem erkennbaren Stil dann, wenn ein Kunstwerk – ihm geht es primär um Malerei – eine Form hat, die als entzifferbar und expressiv erscheint.1 In Vincent van Goghs Gemälde Le champ de blé aux corbeaux ( Raben über dem Weizenfeld ) sehen wir beispielsweise ein Weizenfeld und das soll auch zum Ausdruck gebracht werden. Zweitens ist ein erkennbarer Stil davon abhängig, ob der Künstler über anerkannte Techniken und deren Beherrschung verfügt. Van Gogh verfügte bekanntlich über eine Maltechnik, die zwar als eigen, aber durchaus als anerkannt gilt. Er stand nie im Ruf ein Dilettant zu sein. Ein Kind hingegen, so Wollheim, dass in Graham-Technik tanze, kopiere nur diese professionelle Tanztechnik, da es der ›rohen Sexualität‹ dieser Technik kaum gerecht werden könne. Auf dieses Bild übertagen heißt das: ein Kind, das im Van-Gogh-Stil malt, teilt nicht dessen existenzielle Dramatik. Dieses Kind also folgt keinem Stil, auch wenn es über Technik verfügen mag.
Wollheims Stilbegriff setzt voraus, dass ein Kunstwerk eine klare Form, eine eindeutige Autor- und Könnerschaft und eine tradierte Herstellungsweise aufweist. Diese Bedingungen sind durch avantgardistische Strategien der Kunstproduktion allerdings konterkariert und auch unterminiert worden. Ein bekanntes Beispiel mag dieses Problem und seine Relevanz für die Bestimmung des Stilbegriffs verdeutlichen: Marcel Duchamps Fountain .
Generischer und persönlicher Stil nach Duchamp
Das Ready-made Fountain , das Duchamp 1917 zur Ausstellung der Society of Independent Artists in New York einreichte, weist keinen klaren generischen Stil mehr auf, denn es handelt es sich um ein Serienprodukt industrieller Fertigung. Seine Gestaltungsprinzipien und Herstellungstechniken wurden außerhalb des Feldes der Kunst bestimmt und vorrangig wohl nach außerkünstlerischen Kriterien wie Haltbarkeit, Nützlichkeit, Marktakzeptanz etc. ausgerichtet. Der Künstler ist also nicht an der Herstellung des Objektes beteiligt, wohl aber an der Auswahl und seiner Ausstellung im Feld der Kunst. Denn, wie sich später herausstellt, veranlasst Duchamp, dass dieses Serienprodukt für eine Ausstellung eingereicht wird und erklärt es damit entsprechend seiner künstlerischen Strategie zur Kunst. An die Stelle eines generischen Stils tritt ein persönlicher Stil.
Mit dieser Geste aber bringt Duchamp die Jury der »Gesellschaft der Unabhängigen Künstler«, die über die Hängung der Exponate entscheidet, in eine unmögliche Situation. Hatte die Gesellschaft noch im Geiste der Sezession sich dazu verpflichtet, alle Einsendungen in alphabetischer Reihe auszustellen, so muss sie nun darüber entscheiden, ob dieses Alltagsobjekt kunstwürdig ist, wiewohl es offensichtlich nicht vom Künstler hergestellt, wohl aber dezidiert signiert ist: Am oberen Rand ist mit schwarzer Farbe der Name »R. Mutt« aufgebracht. Das war nicht zu übersehen. R. Mutt allerdings war als Künstler nicht in Erscheinung getreten.
Geht man davon aus, dass die Signatur eines Kunstwerkes lesbar sein sollte, so verlieh dieser Akt der Signatur dem Objekt eine wundersame räumliche Drehung um 90 Grad und führte natürlich eine gesittete Benutzung als Pissoir ad absurdum. Die Frage war nun: Reichen diese Eingriffe aus, das Objekt zum Kunstwerk zu machen und es damit auch den tradierten Kunstwerken und Kunststilen zur Seite zu stellen?
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