Ins Auge fallende, ungewöhnliche Bewegungskombinationen markieren häufig die entscheidenden Stellen […], die feineren Stilnuancen werden erst erkennbar, wenn man intensiv den rhythmischen Gehalt der inneren Einstellungen studiert hat, aus denen heraus eine bestimmte Abfolge von Antriebskombinationen entstanden ist.11
Louppe perspektiviert Labans ›effort‹-Theorie unterdessen unter der Frage nach der Sichtbarkeit des Stilistischen, oder genauer unter der Frage, wie Stil als qualitatives Kennzeichen der Körperbewegung bemerkbar wird. Hierzu betont sie, dass Labans grundlegendes analytisches Interesse an den körperlich und individuell geprägten Antriebskräften (›efforts‹) nicht vordergründig der Bewegungsaktion gälte, der sichtbaren Gestalt einer Bewegung oder äußeren Form einer Geste. Seine Forschungen zielten vielmehr auf »qualitative Dispositive, die mit den ›inner attitudes‹ zusammenhängen.«12
Gegen Ende seines Lebens, als das Exil und die visionäre Suche nach dem Sinn der Bewegung ihn vollkommen vom Tanz entfernt haben, interessiert sich Laban nicht mehr dafür, was der Tänzer oder der ›Bewegende‹ tut, sondern dafür, was in seiner Bewegung liegt – und sogar noch vor der Bewegung, in ihrer Initiationsphase, wo sich die qualitativen Schattierungen aufbauen.
Denn besonders durch den stilistischen (qualitativen) Aspekt jener Beziehungsdispositive wird eine Bewegung, tänzerisch oder nicht, zum Träger dessen, was Laban die moralischen oder philosophischen ›Werte‹ (values) nennt, die uns im wahrsten Sinne des Wortes ›begeistern‹ (›animieren‹).13
Stil zeigt für Louppe demnach den ›Kern‹ der Bewegung an und artikuliert eine der Bewegungsperformance vorgängig eingenommene und ausgebildete Haltung, die sich in der Bewegung wirksam zeigt. Es ist eine artikulierte, dem Subjekt zugeordnete Kraft der Verwandlung, die nicht mit einem ›effort‹ identisch und doch aus dem Wissen seiner wandelnden Gestaltungskräfte hervorgeht. Der Modus des Wahrnehmbarwerdens von Stil ist gleichsam einem Aufmerken geschuldet, das gerade nicht der sichtbaren Formgestaltung der Bewegung gilt. Vor dem Hintergrund dieser bewegungstheoretischen Perspektivierung fasst Louppe die qualitative Dimension von Stil folgerichtig als »Subtext«, ja sogar als »wahren Text« der Bewegung, »den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört.«14
Die ›Werte‹, die von unseren Intentionen getragen werden, siedeln sich in den Randbereichen des Sichtbaren an und können oft durch eine Geste, das Aushalten einer Dauer oder eine Orientierung im Raum erscheinen.15
Doch was vermag ein solcher Stilbegriff als ästhetischer Denkraum zu leisten, der gleichsam auf einen unsichtbaren und doch wahren Kern von Bewegungen zielt? Louppes Indienstnahme des Stilbegriffs, der einer wirkenden und doch der Sichtbarkeit entzogenen Gestaltungskraft gilt, erfüllt genau jene wissenschaftliche Funktion, die Pfeiffer für den Stilbegriff herausgestellt hat: »Mit ihm kennzeichnen wir die expressive Prägnanz, die von sprachlichem wie nichtsprachlichem Verhalten und Handeln ausstrahlt. […] Im Begriff des Stils versammeln wir nunmehr jene expressiven Reste an Werten und Normen, an Kohärenz und Totalität, ohne welche wir an Phänomenen wohl nicht mehr interessiert wären.«16 Da Louppe mit dem Stilbegriff kein qualitatives bewegungsästhetisches Terrain erschließt, das mit einer tanztechnisch verankerten Bewegungskompetenz der Tanzenden und deren potentiell ausdifferenzierbaren Merkmalen übereinkommt,17 eröffnet sie einen ästhetischen Denkraum, der einem Wahrheitsdiskurs angehört. Hervorgekehrt werden Qualitäten expressiver Prägnanz, deren Wert eine intentionale Haltung im Bewegen beschreibt. Doch hat Louppe weder die von Laban ausgearbeitete tänzerische Verwandlungsgabe zwischen differenten Bewegungsqualitäten im Blick, noch spürt sie einer ästhetischen Struktur von Schönheit nach, die jenseits eines totalitären Denkens eine mitgeführte Ungeheuerlichkeit bedenkt. Um so dringlicher stellt sich die Frage nach der Funktion eines solchen ästhetischen Diskurses, der letztlich einem mystischen Moment tänzerischen Ausdrucks gilt.
Zeitgenössische Perspektiven: Choreographische Handschriften
Zugleich ist zu beobachten, dass zeitgenössische Tanzdiskurse und tanzästhetische Reflexionen über Stil paradoxerweise an Bedeutung verloren haben. Stil fungiert kaum als ästhetischer Denkraum, der über eine Kennzeichnung von Identifikationsmerkmalen einzelner Gruppierungen oder historischen Richtungen hinausreicht. Seine Funktion einer bewegungsästhetischen Differenzfigur zwischen spezifischen Formsprachen, die wie im 18. Jahrhundert gerahmt von Normen einen stilistischen Bewegungscode identifizierbar zu erkennen geben, hat an Bedeutung verloren. Allenfalls werden mit ihm stilistische Bewegungsfiguren im Sinne künstlerischer Handschriften von Choreograph*innen benannt, die im Diskurs eine tanztechnische Identifikation des Stilistischen ersetzen.1 Denn angesichts hybrider Bewegungs- und Tanztechniken, die die einzelnen tanzästhetischen Positionen zeitgenössischer Choreograph*innen prägen, in dem eine Vielzahl sich ergänzender somatischer Zugänge miteinander verbunden werden, erwachsen körpertechnische Konturen im Sinne einer stilistischen Ausprägung nunmehr primär aus der kritischen Reflektion auf choreographische, theatrale oder körperpolitische Maßgaben der tanzenden Körper. Der stilistische Nimbus ihrer explorierten Bewegungsfiguren eröffnet auf diese Weise ästhetische Reflexionsräume, die einem spezifischen choreographisch und theatral verankerten In-Erscheinung-Bringen von Körperbewegungen geschuldet sind. Eine intentionale Haltung der Tanzenden als ästhetischer Fokus, die Louppe beschreibt, ist zugunsten einer bewegungsästhetisch-kontextualisierten, politisch oder ethisch motivierten Arbeit gewichen, die – wie der Beitrag von Christina Thurner verdeutlicht – mitunter selbst die Frage nach dem Stil thematisieren und als Spiel mit Identitätspluralitäten und Weisen der Selbstkonstruktion verhandeln.
TanzStile als ver- und entkörperte Norm: Historische Positionen
Untersucht man indessen historische Stilbildungen im Bühnentanz, so wird auffällig, dass Stile vor allem an der Schwelle eines vollzogenen Stilbruchs bemerkbar werden. Die Relation zwischen spezifischen Vorschriften und ästhetischen Regeln, wie zu tanzen sei, und ihrer aktuellen Ausführung treten in Momenten ihres Überschreitens hervor, wobei die stilistischen Eigenheiten des Tänzers oder der Tänzerin – so zeigen es historische Tanzdiskurse – nicht gänzlich den ästhetischen Kodex verlassen dürfen, um als künstlerische Leistung anerkannt zu bleiben. Doch sind es Momente eines Überschwangs, eines offensichtlichen Übertritts von ästhetischen Vorschriften, mit denen Stilprägungen einzelner Tänzer*innen thematisch werden. Auftritte wie von Auguste Vestris [auch Vestris der Jüngere genannt]1, ein in der Tradition des ballet en action an der Pariser Opéra ausgebildeter Tänzer, kennzeichneten einen solchen Überschwang, der klassifizierte bewegungstechnische und ästhetische Stile unterläuft. Julien-Louis Geoffroy führt in seinem Manuel dramatique (1822) über den Tanz von Auguste im Vergleich zu seinem Vater (Gaetan Vestris) aus:
Dance reached its highest point under Vestris the Elder; if it appears to reach perfection under his son, it is because it amazes more, because it is distorted. Vestris the Younger in fact contributed nothing to what constitutes the true merit of dance, in grace, expression, worthiness of movements, beauty of forms and attitudes; […]. He perfected no essential part of the art, but taking advantage of his extraordinary strength, he mixed that which is true dance with tours de force, which smack of the art of the tumblers, […]. He spurned the earth and the floor, where the true dancer practices his talent; he threw himself into the air, and the boldness of his flight captivated the spectator. […] What was merely corruption was regarded as a wonder of the art, and this mix of jumps and steps, which confound and alter two very different arts, appeared to be a bold and sublime novelty.2
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