Die Schauspielerin mit Down-Syndrom Julia Häusermann vom Züricher Theater Hora, die 2013 den höchst dotierten Alfred-Kerr-Darstellerpreis auf dem Berliner Theatertreffen verliehen bekam, tanzt in dem von Jérôme Bel arrangierten und choreographierten Abend Disabled Theatre. Was sie allerdings zeigt, kann schwerlich auf eine etablierte Tanztechnik zurückgeführt werden, noch ist es individuelle Technik, der Häusermann-Tanz. Es sei, wie der Juror Thomas Thieme sagt, bar jeder Kategorien berührend.
Existenz im Augenblick. Schwermut und Übermut zugleich. Und diese Verlorenheit. Keine Chance, ihr auf irgendeine Technik, eine gesetzte Pointe zu kommen. Kein virtuoses Auftrumpfen und vor allem kein Buhlen um die Aufmerksamkeit und Liebe des Publikums. […] Und meine Kriterien – ich hatte ja ein paar – gingen den Bach runter.5
Hat also Häusermann ihre eigene Technik? Oder ist der Tanz zu Michael Jacksons They don’t care about us ein individueller Ausdruck, gefärbt mit dem für ihre Lebenssituation typischen und medial vermittelten Tanztechniken? Das Sich-ans-Genital-Fassen und der angedeutete »Moonwalk« Jacksons als Gemeingut? Weder noch. Man kann hier keine klare Grenze zwischen professioneller Tanztechnik und dem, was Uwe Wirth das »dilettantische Dispositiv«6 nennt, ziehen. Man kann also bei Häusermann nicht mehr sagen, es tanze hier jemand mit Trisomie 21 und man kann nicht die Analogie zu den Kindern aufmachen, die in der Graham-Technik stillos erscheinen müssen, weil sie – ähnlich der Lessingschen »mechanischen Nachäffung«7 – Darstellungstechniken lediglich kopierten, ohne sie recht zu verstehen und zu empfinden.
Das aber heißt, dass die Frage der Technik nicht mehr allein an Häusermanns Tanz, als dem sichtbaren Werk und seiner Herstellungsweise, festgemacht werden kann. Vielmehr prägt dieses Bühnenwerk eine verteilte und auf Zukunft umgestellte, also spekulative Autorschaft. Häusermann ist ohne Bels starke Autorisierung, ohne den Diskurs um professionelles Schauspielen, für das der Juror Thieme und der Rahmen des Berliner Theatertreffens stehen, und ohne eine intensive mediale Debatte um die Anerkennung von Künstlern mit körperlicher oder geistiger Behinderung, auf die der doppeldeutige Titel Disabled Theatre , also das Theater von Behinderten und das behinderte Theater, anspielt, kaum denkbar. Wir müssen uns also die Technik als einen zentralen Baustein des tradierten Stilverständnisses nicht als objektive oder subjektive Eigenschaft vorstellen, sondern eher als eine Handlungskette im Sinne Bruno Latours, mit der allmählich so etwas wie die Verfestigung eines Stils oder einer Tanztechnik hergestellt wird.
Es ist wenig hilfreich, bei dieser Form des Produktionsprozesses nach jenem langen Training körperlicher Fertigkeiten und davon ausgehend der virtuosen Beherrschung körperlich und geistig schwieriger Aufgaben zu suchen, wie sie die Idee künstlerischer Techniken im Gegensatz zu anderen Techniken prägen und damit auch eine Säule des Stilbegriffs darstellen. Diese Säule bricht weg, weil sich die Produktionsbedingungen von Kunst geändert haben und weil die Produktionsprozesse nicht mehr auf klare Ziele hin ausgerichtet sind. Was bleibt, ist die Idee von Kunst, hochapostrophiert zur Haltung, zum Eigennamen und zur Duchamp’schen Autorisierungsparadoxie. »Kann man Werke machen, die keine ›Kunst‹ sind?«8, fragte sich Duchamp, der Künstler. Seine Versuche scheiterten, als das Publikum dahinterkam, wer sich hinter R. Mutt verbarg. Wir können diese Paradoxie übertragen auf unsere Frage nach der Stilbestimmung: »Kann man Werke machen, die keinen ›Stil‹ haben?« Die Antwort ist: Im Feld der Kunst, nein. Denn früher oder später greift über Anschlusskommunikation das Stilpostulat und trachtet eine Entscheidung herbeizuführen, ob der Fall weiter im oder außerhalb des Feldes der Kunst behandelt wird.
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