Warum schaute die ihn dauernd an?
Die Tür ging auf, zwei Kinder stürzten herein, konnten acht und zehn sein, und beinahe hatte Birne ein Aha- Gefühl, das verflog, bevor es sich manifestierte, als die Mutter und Kebabverkäuferin die Kleinen auf Deutsch fragte, wie es in der Schule gewesen sei und das Mädchen fröhlich antwortete: »Wir haben eine Probe geschrieben, die war kinderleicht.« Die Mutter freute sich, strich ihrer Tochter übers Haar, und der Bub sagte etwas Wütendes auf Türkisch, was die Mutter mit einer strengen Frage beantwortete, auf die der Junge wiederum im verteidigenden Ton antwortete. Einen Satz sagte die Mutter noch auf Türkisch und dann auf Deutsch und, Birne war sich sicher, nur für ihn: »Nur weil wir Türken sind. Ich werde mit ihm reden, und jetzt macht eure Hausaufgaben.«
»Was ist mit Papa?«, wollte das Mädchen wissen.
»Es ist alles in Ordnung, Papa kommt bald wieder nach Hause, macht euch keine Sorgen, macht Hausaufgaben. Bitte.« Und wieder ein Blick zu Birne, düster und mit dem Hauch eines Begehrens, keines fleischlichen.
Die Kinder verschwanden nach hinten. Die Frau legte ihm seinen Kebab auf einen Teller und stellte diesen vor ihn hin.
»Schlimm, was passiert ist, nicht?«
Birne wusste nicht, was gemeint war und hielt es für sicher »Ja, schlimm« zu sagen.
Die Frau begann zu schluchzen. Birne wurde verlegen. Was war Schlimmes passiert? Während er überlegte, fiel es ihm ein: die Kinder, die dunkle Frau, die Treppe. Er hatte es hier mit seiner Nachbarin aus dem Erdgeschoss zu tun. Sie hatte Angst, weil ein Mord in ihrem Haus begangen worden war und weil ihr Mann nicht da war, verstand Birne. Wieso hatte er eigentlich keine Angst? Weil er ein kräftiger junger Mann war, der Schränke aus Kellern in erste Stockwerke tragen konnte, weil bei ihm nichts zu holen war, weil ein Mörder nicht zweimal im gleichen Haus zuschlägt? Wieso eigentlich nicht?
»Ich glaube, es ist überstanden«, versuchte er zu beruhigen.
»Gar nichts«, sagte die Frau unter nicht mehr zurückhaltbaren Tränen.
»Nana.« Birne. »Zufällig kenne ich den Kommissar; der sagt, sie haben den Mörder wahrscheinlich.«
»Ja«, jetzt schrie die Frau laut auf, und Birne wusste, dass er was Falsches gesagt hatte, bevor sie sagte: »Sie haben meinen Mann.«
Sie hatten ihren Mann. Wie kamen sie denn darauf?
»Wie kommen die auf Ihren Mann?«
»Weil wir Türken sind.«
Irgendetwas hatte Birne noch nicht begriffen oder wusste er noch nicht.
Birne biss in seinen Kebab, während er der weinerlichen Stimme der Frau zuhörte. Ihr Mann sei unschuldig, sie sei ein Opfer, was solle denn aus den Kindern werden, der Einzige, der ihr noch bleibe, sei der Bruder, sie, die ganze Familie seien immer in bester Stimmung mit Frau Renate Zulauf gewesen, sie habe ihr sogar verraten, wo ihre Ersparnisse seien, falls mal was sei. Wenn ihr Mann aus Habgier geräubert hätte, dann wäre das Geld doch jetzt weg.
Da war was dran, das musste Birne zugeben.
»Uns geht es nicht schlecht mit dem Geld, nicht rosig, aber auch nicht schlecht. Kinder können auf die Schule, unser Laden läuft. Schauen Sie. Mein Mann hätte nie wegen Geld einen Einbruch gemacht und schon gar nicht einen Mord. Schauen Sie, es geht uns gut.«
Kundschaft – drei Jugendliche mit amerikanischen Pullovern und weiten Hosen und kurz rasierten Köpfen – betraten den Laden und einer schrie: »Mahlzeit! Döner an die Männer!« Sie lachten jugendlich, hielten sich für die Könige des Humors und die Könige des Humors für die der Welt. Sie stemmten ihre krummen Rücken mit den Ellbogen auf einen Stehtisch in der Ecke Birne gegenüber. Einer, ein Blasser, grinste zu Birne herüber. Birne wusste nicht, was der wollte und grinste nicht zurück. Der Junge sagte etwas Leises, das klang wie »Sag halt ›Hallo‹, du Arschloch«, oder so ähnlich. Birne bekam ein bisschen Angst und konzentrierte sich auf seinen Döner.
»Sofort«, sagte die kleine Frau und verschwand hinter der Theke. Sobald die drei Buben am Stehtisch mit Gewürzen ihre Sandwichs verschärften, war sie wieder bei Birne.
»Wieso erzählen Sie das nicht der Polizei?«
»Das hat keinen Sinn. Die hören nicht auf eine kleine Frau wie mich und erst recht nicht auf eine ausländische und auch nicht auf meinen Mann. Die sind alle rechtsradikal.« Sie senkte ihre Stimme bei diesen Worten, damit die andere Kundschaft sie nicht hören konnte. Die Buben hatten doch was verstanden und spitzten die Ohren. »Helfen Sie mir.«
»Was kann ich tun?«
»Ihr Essen geht aufs Haus. Wollen Sie noch was trinken?«
»Nein, danke.«
Sie ging zum Kühlschrank, nahm eine Plastikflasche Fanta heraus und brachte sie Birne.
»Hey, wir wollen auch Fanta!«, brüllte einer der Drei, ein ziemlich Dicker mit dunklem Haar und rotem Gesicht und Kugelaugen, die ihm beinahe davon kullerten.
»Könnt ihr haben, müsst ihr bezahlen«, sagte die Herrin des Ladens mit schwacher Stimme, die auch Angst verriet, eine Angst, die sie nie gehabt hätte, wäre ihr Mann da gewesen.
»Nein, wir wollen sie umsonst wie der Spacko da drüben«, schrie der junge Fettsack.
»Nein, ihr müsst bezahlen.«
Zivilcourage, dachte sich Birne, Zivilcourage.
Auf demselben Weg, auf dem sie Birne Fanta brachte, zog sie den jungen Leuten ihre Teller weg und stellte sie auf die Theke. Die drei nahmen ihre Rest-Kebabs und begannen, mit Fleischschnipseln zu werfen und dazu »Ich liebe Deutschland« zu grölen.
Birne war überfordert, er musste jetzt was tun. »Hey!«, schrie er zu den drei Randalierern, die ihm mit einem Lachen antworteten. Sie schrien auch »Hey«.
Der Dicke kam auf ihn zu, langsam, und wollte bedrohlich wirken, schaute sich aber immer wieder zu seinen Kameraden um, damit die nicht einfach abhauten.
Eineinhalb Meter vor Birne baute er sich auf und fragte: »Was, hey?«
»Lasst die Frau in Ruhe, die hat euch nichts getan.« Birne war nervös, während er das sagte, und man hörte ihm das auch an.
»Lasst die Frau in Ruhe«, äffte der Dritte ihn nach; er war eine Art Aushilfs-Hip-Hopper mit einem goldenen Kettchen und einer schiefen Baseballmütze. In jeder normalen Situation, dachte Birne, hätte man ihn nur auslachen können ob seiner Erscheinung. Jetzt hatte Birne echte Angst und rechnete mit einer körperlichen Auseinandersetzung.
»Wir wollten doch nur auch etwas zum Trinken – so wie Sie«, sagte der Dicke.
Der Blasskopf wurde plötzlich vernünftig und pfiff seinen Kumpel zurück: »Komm, die wollen jetzt vögeln, die Türkin und der deutsche Schlappschwanz. Lassen wir sie.« Die drei traten geschlossen ab, nicht, ohne dass der Blasse, der gerade so vernünftig war, mit einem kräftigen »Servus« den Papierkorb neben dem Eingang umtrat. Dann verschwanden sie, etwas Unverständliches murrend.
Birne hätte heulen mögen wegen seines Versagens und überlegte kurz, ob er der Frau helfen sollte, den Müll aus Papierservietten und Essensresten wieder einzusammeln, entschied aber, dass nichts diesem Augenblick ein Stückchen Würde wiedergeben könnte.
»Helfen Sie?«, kam die Frau auf ihn zurück.
Birne schaute verlegen auf seinen Teller und schämte sich der Krautschnipsel, die darauf lagen, die er geschenkt bekommen und aus seinem Kebab fallen hatte lassen. »Was kann ich tun?«
»Ich habe einen Schlüssel zu Frau Renate Zulaufs Wohnung. Sie hat mir vertraut.«
Birne klaubte Kraut auf von seinem Teller und steckte es sich in den Mund.
»Gehen Sie da rein und suchen Sie etwas, was meinem Mann helfen könnte, da wieder rauszukommen. Gehen Sie zur Polizei damit. Sie sind ein junger blonder Mann. Ihnen werden sie glauben.«
Birne wollte seine Ruhe, er wollte keine Hilfe, von niemandem, und er wollte niemandem helfen müssen. Er wollte dafür lieber wegschauen. Aber jetzt konnte er nicht wegschauen, nicht auf seinen Teller, nicht auf die andere Seite, er war angesprochen worden und er musste reagieren. Er wollte kein schlechter Mensch sein, er hielt sich für keinen, er hielt sich für einen normalen.
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