Abraham hätte jetzt gern die Leiche gesehen.
»Auf jeden Fall ist wieder die ausländische Frau mit ihrer Stimme dran und ich übernehme sie, versuche relativ erfolglos, sie runterzubringen, bringe sie immerhin so weit, dass sie sich still in ihre Wohnung setzt und wartet, bis ich bei ihr bin. Bin selbst gefahren und sofort, habe mir dabei Senf auf den Handrücken gebracht. Da!«
Abraham schaute und dachte sich: Selbe Wellenlänge nur zum Teil, Trimalchio ist ein Wichtigmacher und Streber, dem’s an Grips fehlt, kein Wunder, dass er, Abraham, auf seinem Stuhl saß und nicht der, der seit Jahren an ihm sägte und ihm jetzt gegenüberstand und so umständlich ausführte, was passiert war. Andrerseits, dachte Abraham, sitzt jeder auf seinem eigenen Stuhl, ein Stuhl hat wenig Persönlichkeit, sodass erst durch das Sitzen von jemandem der Stuhl zum Stuhl von jemandem wurde. Abraham sagte nichts und ließ den Kollegen weiterreden.
»Die Frau war hysterisch, hatte ihren Mann kommen lassen – die beiden betreiben einen Kebabstand nicht weit von hier – er war relativ gelassen. Ich weiß, das hätte mich stutzig machen müssen. Egal. Weiter: Sie erklären mir, dass nebenan die tote Frau Zulauf wohnt, dass sie zu ihr die besten Beziehungen haben und so weiter. Sie haben aber nicht nur Beziehungen, sondern auch einen Schlüssel, angeblich von der Frau selbst ausgehändigt für den Fall, dass mal was passiere. Den Schlüssel hat sie benutzt, nachdem sie uns zum ersten Mal angerufen hat, und ist in die Wohnung und hat das Opfer, Frau Renate Zulauf, dort in ihrem Blut und erstochen aufgefunden. Sie hat, ohne etwas anzufassen, die Wohnung verlassen und uns angerufen, was das völlig Richtige in dieser Situation war, das habe ich ihr auch gesagt.«
»Wie lange ist denn das Opfer nicht mehr unter uns?«
»Sie meinen, seit gestern früher Nachmittag.«
»Noch Zeugen?«
»Im Haus?«
»Zum Beispiel. Wir gehen nachher rum.«
Jetzt fiel Abraham was ein, jetzt fühlte er sich stark. »Warum ist das noch nicht geschehen?«
»Können wir sofort veranlassen, hör nur kurz den Rest an.«
»Nein, veranlass du, ich schau mir derweil die Leiche an.«
Trimalchio führte ihn in die Wohnung und übergab ihn dort einem Uniformierten, der ihn auf dem Weg zur Küche begleitete und dort auf eine tote Frau auf dem Boden wies. »Da.«
»Aha.«
Kollegen wuselten, nahmen Fingerabdrücke, einer fotografierte, einer kniete neben der Toten und schaute sie genau an, ein weiterer packte kleine Gegenstände in Plastiktüten, gerade war er an einem Salzstreuer, und Abraham dachte, dass das hier vielleicht auch das Bescheuertste war, das er jemals mitgemacht hatte. Vielleicht sollte man es generell sein lassen, der Presse mitteilen, dass jemand den perfekten Mord geschafft habe und weiterziehen.
Vor ihm lag eine tote Frau mit Messerstichen in der Brust, eine alte Frau. Er wusste nicht, ob von ihm jetzt erwartet wurde, dass er niederkniete. Er tat es und roch etwas an ihrem Rücken. Alte Frau halt. Blut konnte er keines sehen bis auf das, das ausgelaufen war, es war überraschend, wenn auch nicht verdächtig wenig, denn die Frau war nach vorne gefallen, um zu sterben.
Er stand auf und suchte Trimalchio, er wollte jetzt dessen Stimme hören, er ging aus der Wohnung im ersten Stock und lief dem Inspektor fast in die Arme.
»Und?«
»Es war niemand da, aber ich schicke später noch mal jemand rum.«
»Ist in Ordnung. Was ist sonst noch passiert?«
»In den letzten fünf Minuten?«
»Nein, so insgesamt. War denn die Tür aufgebrochen?«
»Eben nicht. Jetzt kommen wir zu unserem Verdacht. Wir also rein in die Wohnung, finden alles praktisch unberührt nach dem Mord, finden das Messer, finden Fingerabdrücke im Haus, und was dann kommt, nenn es Intuition, nenn es einen Fingerzeig, nenn es eins und eins zusammenzählen. Ich seh das Kebabmesser und denk Türkin, lass also das Finderpaar draußen im Kombi ein paar Angaben zur Person machen und nutz das, um ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen, sag, dass das so üblich ist, und auch in ihrer Wohnung, während sie Angaben machen. Und stell dir vor und glaub es nicht, was die uns innerhalb von zehn Minuten sagen, die Kollegen mit dem fahrbaren Köfferchen, dem mobilen Labor.«
Trimalchio blickte Abraham wieder so an. Das sollte eine spannungserzeugende Pause sein. Abraham konnte sich denken, was jetzt kam und freute sich darüber, denn das konnte bedeuten, dass das Ding hier schnell gelöst sein würde.
»Der Mann, der das Kebabmesser geführt hat, und der Mann der Türkin, der Nachbar der armen Frau Zulauf, sind – derselbe.« Bingo.
»Und was ist dann passiert?«
»Wir haben ihn vorläufig unter dringendem Mordverdacht festgenommen.«
»Und die Frau?«
»Die wollte mit.«
»Wie mit?«
»Na ja, halt mit ihrem Mann. Sie ist in ihrem Auto dem Streifenwagen nachgefahren und macht jetzt irgendwo anders einen Riesenradau. Früher oder später wirst du mit ihr zu tun haben.«
Früher oder später war jetzt geworden – der Vormittag, nachdem sie die Leiche gefunden hatte. Sie saß vor ihm, war zunächst glücklich darüber, nun von ihm persönlich vernommen zu werden, aber er konnte doch auch nichts für sie und ihren Mann machen, das war alles ziemlich eindeutig. Und aus ihr bekam er auch nicht mehr raus als Beleidigungen und Vorwürfe, ein Nazi zu sein. Vielleicht war er auch nicht der König der Psychologie, wahrscheinlich würde sich aber dieser Schlaukopf, dieser sogenannte Trimalchio, auch nicht besser anstellen.
Innerlich hakte er den Fall ab. Es war unglaublich, aber halt wahr. Dieser dumme Budenbesitzer war mit dem Schlüssel, den seine Frau verwahrte, in die Nachbarwohnung eingedrungen und hatte die Frau Zulauf ermordet, abgestochen wie ein Schwein. Dann war er – die Details müsste man noch klären – unverrichteter Dinge wieder abgehauen, hatte nicht einmal versucht, seine Tat zu verwischen. Abraham spekulierte: Der Döner hatte sich nicht mehr so gut verkauft, die Allgäuer fraßen wieder mehr Leberkäs zu Mittag, das hatte die Familie in Bedrängnis gebracht – es waren noch zwei Kinder in Schulen unterwegs – und dann hatte er zur einfachen Lösung gegriffen: Die Nachbarin um vermeintliche Millionen im Strumpf unter dem Kopfkissen bringen. Dann hatte das Gewissen allerdings das Vorhaben zu Tode gezwickt. Jetzt hatten sie einen Verdächtigen, Beweise und eine halbwegs plausible Geschichte. Abraham hatte keine Lust mehr, sich von der Keiferin weiter die Zeit klauen zu lassen, hatte sie nun mal jahrelang das Bett mit einem Mörder geteilt, musste sie sich damit abfinden, immer noch besser, als selbst Opfer zu sein. Er hatte noch was vor. Er musste sich noch um den Enkel kümmern. Der sollte noch einmal in die Wohnung und schauen, ob ihm was auffällt, was vielleicht fehlten könnte. Bringt nicht viel, dachte sich Abraham, wahrscheinlich. Der war nicht dauernd da. Und dann hatte er sich noch um seine Müllsünder zu kümmern. Klingt nicht nur banal, ist es auch. Da stirbt eine Unschuldige und keine zwei Tage später reden sie wieder vom Abfall, keine zwei Tage später. Die Frau ist noch nicht einmal beerdigt.
»Frau Kemal, ganz im Ernst: Was wollen Sie, dass ich für Sie tue?«
»Lassen Sie meinen Mann zu seiner Familie zurück.«
»Sie wissen genau, dass das nicht in meiner Macht steht, Sie wissen, dass es Beweise gibt, die ihn in den dringenden Tatverdacht eines Mordes bringen. Es steht nicht in meiner Macht, ihn freizulassen, das muss der Staatsanwalt beschließen. Aber ich sage Ihnen ehrlich: Viel Erfolg prophezeie ich Ihnen nicht. Zu groß ist die Fluchtgefahr.«
Die Frau hatte ihn zum ersten Mal ohne aufzubrausen seine Sätze beenden lassen. Hatte er sie? Konnte er ihr jetzt Fragen stellen?
»Aber Sie haben gar nichts gegen meinen Mann in der Tasche.«
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