»Das stimmt nicht, Frau Kemal, wir haben eindeutige Fingerabdrücke.«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass wir einen Schlüssel haben. Frau Zulauf hat uns vertraut, wir sollten gelegentlich nach ihr sehen. Mein Mann war immer wieder bei ihr – ohne Handschuhe anzuziehen.«
Sie wurde wieder lauter, wäre beinahe auch wieder aufgestanden, Abraham hob die Hand, um sie zurückzuweisen.
»Dann erklären Sie mir, wie diese Fingerabdrücke auf die Mordwaffe kommen, dann erklären Sie mir, wie diese Mordwaffe in die Wohnung der Frau Zulauf gelangt ist.«
»Man muss es uns geklaut haben.«
»Das heißt, irgendjemand muss in Ihren Laden gekommen sein und, während Sie nicht aufgepasst haben, das Messer hinter der Theke hervorgeholt haben.«
»So muss es gewesen sein.« Sie sagte das so leise, als ob sie jetzt vollends aufgab und einsah, dass sie ihren Gatten an ein deutsches Gefängnis verloren hatte für die nächsten 15 Jahre.
»Wie bitte?«
»So muss es gewesen sein.«
»Wann, Frau Kemal, haben Sie denn das Messer vermisst?«
»Gestern morgen.«
»Das heißt, als Sie vorgestern Ihr Geschäft geschlossen haben, hing es an seinem Haken wie jeden Abend.«
»Genau.«
»Und Sie sind sich sicher, dass Sie die Tür verschlossen haben?«
»Ganz sicher.« Frau Kemal fasste wieder Vertrauen, der Bulle ihr gegenüber redete zum ersten Mal wirklich mit ihr.
»Frau Kemal, das ist jetzt ganz wichtig: verschlossen oder geschlossen?«
»Verschlossen.«
»Kennen Sie den Unterschied?«
»Ich spreche diese Sprache seit mehr als 20 Jahren, ich bin praktisch hier geboren, ich habe hier meine Schule abgeschlossen – abgeschlossen, verstehen Sie?«
»Ist in Ordnung. Wie lange haben Sie Ihr Geschäft schon in Kempten?«
»Fünf Jahre.«
»Und wie lange kennen Sie Ihren Mann schon?«
»Immer schon, wir sind miteinander aufgewachsen.«
»Sind Sie verwandt?«
»Nein, wie kommen Sie darauf?«
»Standardfrage. Frau Kemal, wo war Ihr Mann, nachdem Sie gestern gemeinsam Ihr Geschäft verlassen haben?«
»Er war die ganze Zeit bei mir.«
»Und Sie waren nicht in der Wohnung der Frau Zulauf?«
»Nein, waren wir nicht.« Jetzt war sie eine starke Frau, sie sagte das bestimmt und laut. Sie hatte verstanden, dass sie mit ihm kooperieren musste, um noch irgendetwas zu erreichen, was ihr freilich wenig bringen würde: Abraham war sich sicher, den Richtigen verhaftet zu haben.
»Würden Sie diese Aussage unter Eid vor Gericht wiederholen?«
»Würde ich.«
»Wissen Sie, was ein Eid nach Deutschem Gesetz bedeutet?«
»Weiß ich. Behandeln Sie mich nicht wie eine Idiotin.«
Das überraschte Abraham, er hatte gedacht, die Türken hätten ihren Frauen das Aufbegehren ausgetrieben. Er musste wieder strenger mit ihr reden.
»Frau Kemal, haben Sie finanzielle Schwierigkeiten?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Beantworten Sie bitte meine Frage.«
»Nein.«
»Wie läuft Ihr Geschäft?«
»Wir sind zufrieden.«
»Keine Probleme, die Miete aufzubringen, keine Mühe, die Zulieferer zu bezahlen?«
»Die Räume gehören uns.«
»So? Ihnen. Dürfte ich Sie dort einmal aufsuchen, vorausgesetzt, es ist Ihnen nicht zu viel, nachdem Sie ja nun allein im Laden sind.« Das sollte ein kleiner Hieb sein. Er traf aber nicht.
»Wir können sofort hingehen.«
Abraham hatte keine Lust. »Frau Kemal, wir haben hier auch noch andere Fälle, es geht jetzt wirklich nicht. Sollen wir für heute Nachmittag einen Termin ausmachen?«
»Sie wollen uns gar nicht helfen. Sie wollen nur einen Schuldigen und dann normal weitermachen. Mein Mann ist unschuldig.«
»Ich habe mittlerweile mitbekommen, dass Sie dieser Meinung sind, doch glauben Sie mir: Die Deutsche Justiz arbeitet sauber und gründlich. Wenn Ihr Mann unschuldig ist, wird er schneller frei sein, als Sie glauben. Frau Kemal, ich bin nur ein kleines Rädchen, und ich habe meine Umdrehung gemacht.«
Sie resignierte. »Wann kommen Sie?«
»Heute Nachmittag. Sind Sie einmal nicht da?«
»Nein, ich bin immer da, kommen Sie, wann Sie wollen. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, ich tue, was ich kann.«
Die Frau schlurfte gebückt zur Tür. Sie war wieder älter geworden.
Als sie weg war, schaute Abraham zu Tina, die ihn ratlos und lange anstarrte. Er hätte gern gewusst, was sie jetzt dachte. Irgendwie ließ ihm die Angelegenheit keine Ruhe.
*
Birne hatte sich auf die Straße gestohlen und kam sich doof dabei vor. War er nicht ein freier Mensch, der einmal keine Lust hatte, mit jedem Idioten zu gehen? Egal jetzt, er war allein auf der Straße und konnte machen oder lassen, wozu er Lust hatte. Er spazierte ein Stück und lobte das Spazierengehen, wie man dabei Zeit bekam für seine Gedanken; Gedanken, die einem, wäre man nicht spazieren gegangen, vielleicht nie gekommen wären. Schade um die Gedanken, wenn man etwas für Gedanken, eigene, übrig hatte, dachte Birne.
Der Nebel war weg und ließ die Sonne unbehindert mit zarter Kraft die Straßen anheizen. Das schlug auf die Stimmung der Leute, sie wurden freundlicher. Birne war einer von ihnen und fühlte sich auch so und verzieh den meisten alles. Im Moment meinte es das Leben nicht so schlecht mit ihm. Im Moment fand er Jammern albern.
Dann kam der Geruch und mit ihm Birne was Verwegenes in den Sinn: Kebab. Er war erwachsen, er konnte sich alles zum Essen kaufen, er konnte sich überall hinsetzen, er konnte asiatisch haben, doch Kebab, den roch er jetzt, Kebab wollte er jetzt haben und sich vorstellen, wie Werner darüber schimpfte, dass man so etwas aß, dass man so etwas überhaupt kaufen könne, sich vorzustellen, wie Tim, wäre er jetzt bei ihm, darüber sein Gesicht knetmassenverziehen würde, dann doch mitginge und die halbe Semmel angeekelt liegen ließe und die andere, die eben verzehrte Hälfte mit Cola-light wegspülte, zumindest den Geschmack, zumindest aus dem Mund. Und Sigrid? Sigrid würde ihn für verrückt erklären. Kebab! Da könnte er ja gleich den Rinderwahnsinn mit Löffeln fressen.
Birne betrat den kleinen, blau gekachelten Laden und richtete seine Augen nach oben, über die Theke, von wo ihn das Angebot anstrahlte. Er konnte vieles haben, auch Vegetarisches und Pommes, aber er wollte Kebab im Fladenbrot, Döner für 3,30 in der Tasche. Er senkte seinen Blick nicht so weit, dass er auf den Salaten und Süßgebäcken der Auslage vor ihm zu ruhen kam, nein, nur so weit, dass er der Verkäuferin, die allein war, in die tiefmelancholischen Augen sehen konnte. Und Birne müsste sich täuschen, wenn in ihrem Blick nicht mehr lag als das gewöhnliche Interesse einer Verkäuferin am Wunsch eines sicheren Kunden. Da lagen ein größeres Wollen, ein tieferes Kennen und ein Drang zu reden darin, die Birne verwirrten, weil er nicht wusste, woher das herrührte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand etwas mehr von ihm wollte. Woher auch? Birne sagte: »Kebab bitte.«
Sie sagte: »3,30 bitte, zahlen Sie beim Gehen«, und machte sich ans Werk, schnitt Fladenbrot und schaute kurz zu ihm auf, schob Fladenbrot in den Ofen und schaute, schnitt Fleisch mit einem großen Messer vom Drehgrill und hätte geschaut, doch Birne setzte sich jetzt an einen Barhocker an der Wand vor einem großen Stehtisch und drehte zum Spielen den Chilipulverstreuer in dem Aschenbecher, in dem er stand, nur um nicht angeblickt zurückblicken zu müssen und den Beschluss »heute Kebab« zu bereuen. Er wollte vor allem und wie gesagt viel Ruhe vor den Menschen. Vor allem vor den fremden.
Aber die hier schaute ihn an, als ob sie ihn kennen würde. Woher nur?
Es war übrigens sonst niemand in dem Laden. Ob der Döner hier nicht gut war? Birne war das egal, er fand Leute albern, die sich Tage darüber streiten konnten, wo Kebab besser war, welches Bier trinkbar, welches bestenfalls Radler-geeignet war, welche Comics nur früher gut waren und welche man heute immer noch lesen konnte. Waren ihm alle zu albern, diese Diskussionen. Aber diese Gedanken freuten ihn, die kamen ihm nur, weil er allein war im Kebabladen und nicht redete.
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