Es war halt ein Tag, ein Freitag. Er war angekommen.
Ohne sich mehr zu denken, ging er zur Arbeit, zu seinem Büro, das sich zu seinem kleinen Reich entwickelte. Er wollte den Tag gemütlich beginnen, ein bisschen im Internet nach Neuem schauen, vielleicht eine aufregende Band entdecken oder eine schöne Videoseite, entspannt in den Tag hineinschaukeln und ihn vergehen lassen. Im Wesentlichen kümmerte sich niemand um das, was er tat, er ließ sich treiben und erschien in der Regel zur Mittagspause, um sich mit den Kollegen in Konversation und Mahlzeit zu ergehen.
Eine Überraschung erwartete ihn, zwar eine, die seine Pläne, so man sie schon so bezeichnen durfte in ihrer Richtungslosigkeit, durcheinanderbrachte, aber nicht in einer von Haus aus unangenehmen Weise. Die Praktikantin war da, den ganzen Tag in seinem Büro, ihm gegenüber geparkt.
Sie sagte »hi« und »ich bin die Alexa.« Und er sagte »hi« und »ich bin der Birne.«
»Birne? Einfach Birne.«
»Für dich einfach Birne.«
Sie wurschtelten eine Weile vor sich hin, sie bot sich an, Kaffee zu kochen für die Mannschaft, die Mannschaft nahm dankend an und schlürfte dann kräftig.
Sie schrieb E-Mails, als Birne fragte: »Wie war’s mit dem Chef unterwegs?«
»Nett.«
»Nett?«
»Nichts Besonderes.«
»Wie lange bist du da?«
»Jetzt schon oder wie lange noch?«
»Beides.«
»Also, ich bin jetzt zwei Wochen da und bleib noch vier.«
»Dann bist du ja länger da als ich. Und? Wie gefällt’s dir?«
»Gut.«
Sie hatte zahnfleischige Lippen und kleine Zähne, das störte Birne ein bisschen in seiner Konzentration, so ein Mädchen.
»Was machst du?«
»Also, ich hab jetzt mein Abitur fertig und dann hab ich eine Weile gearbeitet und werde jetzt dann anfangen zu studieren. Hier. Tourismus.«
»Bist du von hier?«
»Kann man sagen, aus der Gegend.«
»Und willst nicht fort?«
»Nein, niemals, hier sind alle meine Freunde und die Gegend ist am schönsten.«
»Deswegen Tourismus.«
»Wir haben hier viel Tourismus. Ich hab mir auch überlegt, eine Lehre zu machen, dann hab ich aber nicht gewusst, was ich machen soll und dann hab ich mir gedacht, dass ich vielleicht zu alt bin, wenn’s mir nicht gefällt und ich doch noch studieren will.«
»Ist logisch. Die Zeit ist kostbar.«
»Ich kenne halt viele, die ihre Zeit im Studium vertrödeln und später, wenn sie fertig sind, fast nichts finden, weil sie zu alt sind, und das will ich gar nicht: irgendwas machen, was ich gar nicht will, nur weil ich zu alt bin. Und dann bin ich halt eine Frau, Stichwort Kinder kriegen und so weiter, das spielt auch eine Rolle.«
»Klar. Hast du denn einen Freund?«
Sie zögerte. »Nein. Ja, der ist grad weg.«
»Zivildienst?«
»Nein, auch Praktikum, die haben ihn doch ausgemustert, weil sie nicht so viele brauchen zurzeit.«
»Ist ja auch kein Spaß mehr heutzutage, muss man ja immer damit rechnen, dass man ins Ausland zum Einsatz muss und da kann es immer sein, dass sie dich in die Luft sprengen, auch wenn du nur Wehrdienst leistest. Andererseits ist die Bezahlung auch gut und gleich noch viel besser, wenn du nur ein Vierteljahr hinhängst.«
»Hast du das gemacht?«
»Nein.«
»Kennst dich aber gut aus damit.«
»Hat mir jemand genau erzählt«, sagte Birne, weil ihm Reden im Moment gefiel, weil egal war, was er sagte. »Und dann will dein Freund das Gleiche studieren wie du?«
»Nein, der will weg, vielleicht nach Kiel.«
»Nach Kiel? Leck mich, das ist ganz das andere Ende.«
»Jetzt weiß ich halt nicht, was ich tun soll, weil ich keine Lust auf Fernbeziehung habe.«
»Kann ich gut verstehen. Das geht schief, eher früher als später.«
»Meinst du?«
»Sicher, ich kenne niemanden, bei dem das lange gehalten hat. Immer große Worte und dann war die Liebe schnell überschätzt, gerade wenn die Sprüche und Versprechen besonders groß waren.«
»Da ist was dran.«
»Was will er denn studieren?«
»Volkskunde.«
»Volkskunde?«
»Ja.«
»Scheiße.«
»Scheiße?«
»Scheiß Volkskunde.«
»Wieso Scheiß Volkskunde? Weil das so brotlos ist?«
»Quatscho. Volkskunde ist nicht brotlos, nicht für einen, der wirklich was will, da musst du dir keine Sorgen machen. Aber Volkskunde: Mensch, viel zu viele Frauen, da hat jeder was laufen, im ersten Semester noch.«
»Nein, das ist ja schrecklich.«
»Was heißt schrecklich? Wenn man’s weiß, dann kann man sich darauf einstellen.«
»Ich mach Schluss.«
»Nein, das wollte ich nicht. Mach nicht Schluss.«
»Doch, das hat eh keinen Wert mehr.«
»Versteh mich nicht falsch, wahrscheinlich ist das bei euch ganz anders. Ich meine, gerade die, die sich die größte Liebe vom Himmel runterschwören, sind die Gefährdetsten.« – Birne verhaspelte sich schwer bei dem Wort. Alexa half ihm sprachlich wieder auf die Bahn, Birne bedankte sich und beide fanden es im Augenblick sehr reizend. »Bei euch ist das anders, ihr könnt euch und eure Gefühle schon einschätzen. Darf man fragen, wie lang ihr schon zusammen seid?«
»Schon viereinhalb Jahre und zwei Monate.«
»Das ist grandios. Wie alt bist du?«
»Bald werd ich 19.«
»Und dann seid ihr schon so lange zusammen, das ist prima, das hält. Mach dir da keine Sorgen, die meisten in deinem Alter haben ja noch gar keine Erfahrung mit der Liebe, die haben bisher nur gespielt, aber du, das merk ich doch, du bist da schon viel reifer.«
»Ich mach trotzdem Schluss.«
»Hoffentlich nicht meinetwegen oder wegen dem, was ich gesagt habe.«
»Nein, ich habe es mir schon länger überlegt. Außerdem wie kommst denn du dazu, mir Ratschläge in der Liebe zu geben, du bist doch selbst nicht viel älter. Was willst denn du schon erlebt haben?«
Sigrid kam zur Tür herein: »Na, ihr zwei Turteltäubchen?«
Jetzt beging Alexa einen Fehler, indem sie fragte, etwas erschrocken: »Kann man uns da hören im anderen Raum?«
Und Sigrid beruhigend und wahrscheinlich verlogen: »Nein, nur dass ihr redet, nicht was.« Sie schwenkte einen Mondkalender. »Habt ihr schon reingeguckt? Heute ist schlecht Bier trinken, überhaupt Alkohol: Finger weg – heute. Ich sag’s nur, weil ich euch doch kenne, euch jungen Leute, ich war doch selbst mal jung und bin weggegangen. Dafür ist heute gut Kohlenhydrate essen – Brot, Kartoffeln, Nudeln. Würd ich ausnutzen, das Zeug macht sonst dick, da muss man aufpassen, ihr noch nicht in eurem Alter, aber da kommt ihr früh genug drauf; die Zeit vergeht so schnell, als Kind merkt man das gar nicht, wenn man nur immer wartet auf Weihnachten oder die großen Ferien, aber spätestens ab 30, da flutscht es nur so dahin mit der Zeit. Es sind die Kinder – da hat man dann Kinder oder die Freunde von einem haben welche, und an den Kindern merkt man, wie man alt wird, sagt nicht umsonst der Volksmund, nicht wahr?«
Birne wollte gerade aufstehen und den Knopf suchen, mit dem man sie abstellen konnte, da hörte sie von selbst auf und stand sprachlos vor dem Worthaufen, den sie eben abgelassen hatte. Man hätte Schaufel und Besen holen und ihr zusammenkehren helfen sollen, aber das ging ja nicht: Worte sind, einmal entlassen, nicht mehr zurückzuholen und auch nicht wieder zu verwerten, sie sind weg und wirken da draußen, außerhalb vom Mund, aus dem sie geflogen sind.
»Ich bin nicht mehr jung«, sagte Birne.
»Papperlapapp, natürlich bist du noch jung, Birne. Wie gefällt’s dir denn, Birne? Hast du dich hier schon eingelebt, Birne?«
»Passt schon.«
»Alexa, Sie müssen ihm unbedingt ein wenig die Gegend zeigen.« Sigrid siezte Alexa. Interessant. »Das ist wichtig für Ihre Arbeit hier, dass Sie den anderen was zeigen können, ihnen eine Gegend schmackhaft machen können. Wart ihr schon wandern? Ihr müsst unbedingt wandern. Am Sonntag, sagt der Mondkalender zum Beispiel, wär ein optimaler Tag.«
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