»Für Leibesertüchtigung?«, fragte Birne.
»Für Leibesertüchtigung«, wurde ihm bestätigt.
»Ist oft Leibesertüchtigung.«
»Ja, wenn der Mond so steht. Heute auch, aber heute kommt ihr nicht mehr hoch, das ist zu spät. Geht doch am Sonntag.« Sie würde sie nicht in Ruhe lassen, bis sie ihr schworen, auf den Berg zu gehen am Wochenende.
»Ich denke, ich geh da auf jeden Fall mal raus aus der Stadt in die Umgebung, ist eine höllenschöne Umgebung hier, nicht?«, sagte Birne.
»Unbedingt. Wegen der Stadt brauchst du nicht ins Allgäu zu gehen, hier ist Landschaft, hier ist Natur. Wart erst bis zum Winter, dann kannst du Skifahren.«
Birne konnte der gesamte weiße Sport gestohlen bleiben wie Migräne, das waren ihm, sogar ihm, viel zu viele Umstände für viel zu wenig Fun. Bier konnte er auch woanders bekommen, das wusste er.
»Schön, dass ihr es packt, junge Leute, das passt vom Tempo, ich würde es dir auch gern zeigen, das Wandern, aber auf mich müsstest du immer warten. Wenn man älter wird, dann machen die Füße zu viele …«
»Das glaub ich nicht, du bist doch trainiert, das sieht man doch«, probierte Birne, ob sie eventuell auf Komplimente aus war.
»Nein«, sagte sie. »Hast du passende Schuhe? Schuhe auf dem Berg sind das Wichtigste. Der Berg steigt und fällt mit den Schuhen.«
»Klar hab ich Schuhe.«
»Ich würd sie gern sehen, dann könnt ich dir sagen, ob du damit raufkommst.«
»Ich hab sie nicht da. Ich komm doch hier zum Arbeiten her und nicht zum Wandern.«
»Wird schon passen.«
Passte einen Scheißdreck, Birne hatte keine Schuhe, er wollte nur nicht mehr der alten Frau zuhören, der Frau, die sich für ihn alt machte, die ihn auf dem Berg haben wollte mit dem Mädchen neben ihm. Was hatte die davon? Woher kam diese Herzlichkeit? Soff sie?
Sie ging weg.
Alexa wollte wissen: »Willst du wirklich was unternehmen am Wochenende?«
Birne fühlte sich in der Enge, er hatte eine Menge Dinge hier, die seine Anwesenheit erfordern könnten, andererseits könnte es unter Umständen auch gut sein, weg zu sein, nicht greifbar für irgendjemanden.
»Wieso nicht?«
»Hast du ein Auto?«
»Nein.«
»Ich könnt mir eins ausleihen von meinen Eltern, ist bequemer als mit meinem Roller; du müsstest mir halt sagen, wo ich dich abholen soll, wo du wohnst.«
»Fährst du sonst Roller?«
»Normalerweise reicht’s zum Badenfahren an einen See im Sommer.«
»Wär auch mal nett.«
»Freilich, sobald Sommer ist, machen wir das auch mal.«
Er erinnerte sich, dass er zum Tee verabredet war, dass er für die Mittagspause die anderen abschütteln musste.
Als er antwortete: »Ich bin verabredet«, war Werner verwundert, erwiderte aber nichts, hätte aber so gern – das sah Birne – einen Witz gehabt zum Reißen. Er schaute zu Alexa, versuchte ein Lächeln und sagte: »Capito.«
»Nix capito«, sagte Birne.
»Wo geht ihr sonst immer hin?«, fragte Alexa, die er auch noch loswerden musste, nachdem Werner auf dem Weg war.
»Unterschiedlich.«
»Es gibt in der Nähe einen Döner, der ist nicht schlecht.«
»Hab ich schon probiert, ist gut.«
»Gehst du da heute hin?«
»Nein, ich bin verabredet.«
»Verstehe.«
»Was?«
»Mit einer Frau?«
»Nein, ich hab keine Frau.«
»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Du, ich bin erst eine Woche hier. So schnell geht das nicht.«
»Glaubst du nicht an die Liebe auf den ersten Blick? Wenn es die Richtige ist, merkst du das gleich.«
»Muss nicht sein, kann sein, dass man sich erst eine Weile anschauen muss.« Er starrte sie solange an, bis sie lachte.
»Und? Geht schon was?«
»Moment. Ja, ja, ich glaub, da kommt was, ja, ja, oh nein, das war wieder nur mein Magen. Scheiße. Aber lass es uns nach dem Mittagessen noch mal probieren. Mit leerem Bauch verliebt es sich so schlecht.«
»Kann ja sein, dass es jetzt klappt, ich wünsch dir das Beste.«
»Und wenn das Beste ist, dass ich nach dem Essen noch frei bin?«
»Das Beste.«
»Du kannst ja schon mal Schluss machen.«
»Mal sehen.«
Sie ließ ihn aufbrechen.
Der andere Laden, der des Bruders, war ein bisschen größer, ein bisschen mehr Wirtschaft. Die Frau Kemal wartete auf ihn, und Birne fragte sich, wer denn ihren Laden gerade hütete.
»Unser ältester Sohn kann das übernehmen. Kann ich Ihnen meinen Bruder vorstellen?« Frau Kemals Bruder war groß und stämmig, hatte riesige Augenbrauen und ein lachendes Gesicht. Er trug ein schwarzes Unterhemd und eine dicke Kette darüber. Birne mochte ihn irgendwie.
»Hallo«, sagte er mit lauter Stimme und deutete auf einen Tisch mit drei Stühlen. »Setzt euch, ich komm gleich.«
Frau Kemal sagte leise, als ob es niemand hören dürfte. »Mein Bruder hat eine deutsche Frau, sie hilft manchmal hier im Geschäft, sonst geht sie zur Arbeit.«
Birne überlegte, was er mit dieser Information anfangen sollte. Der Bruder kam, stellte ein Tablett mit drei kleinen Teegläsern hin und setzte sich dazu.
»So«, sagte er. »Haben Sie sich entschieden, Herr Birne?« Sie mussten seinen Namen vom Briefkasten abgelesen haben.
»Ich weiß immer noch nicht genau, was Sie von mir wollen.«
»Herr Birne, wir sind in gewisser Weise in einer Notsituation. Aber selbstverständlich würden wir uns erkenntlich zeigen.« Frau Kemal schaute Birne groß an und war zur Verstärkung neben ihren Bruder gerückt, während der Daumen und Zeigefinger aneinander rieb, um Birne klarzumachen, dass Geld dabei rausspringen würde.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir überhaupt nicht um Geld. Wenn ich Ihnen wirklich helfen kann, dann will ich dafür nichts annehmen, verstehen Sie?«
»Ich will niemanden anderen jetzt mehr fragen. Ich will Sie, Herr Birne«, sagte der Bruder, als wäre das irgendeine Antwort auf Birnes Bedenken. »Wir Türken haben es nicht leicht in Ihrem Land, so schön Ihre Politiker auch reden. Ich will mich nicht beklagen, man kann sich hier einrichten.« Er schaute sich in seinem Gastraum um. »Trotzdem fühlt man sich gelegentlich als Mensch zweiter Klasse, verstehen Sie.« Birne nickte. »Es heißt immer typisch Türke, wenn irgendwas war. Gerade in dieser Stadt, die sehr schön ist, das mag ich gar nicht abstreiten, aber ich komme hier ungern in Schwierigkeiten.« Er schaute Birne groß an.
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?«
Frau Kemal mischte sich wieder ein: »Das kommt vom Eindruck. Sie sind sympathisch. Ich habe Sie helfen gesehen.«
Das stimmte, sie hatte ihn vorher nur der Frau Zulauf den Schrank hochtragen sehen. »Es ist auch für die arme Frau Zulauf«, fuhr sie fort. »Ich will, dass ihr Mörder gefunden wird.«
»Sehen Sie, ich habe selbst eine deutsche Frau.« Birne fragte sich wieder, was der Bruder ihm damit sagen wollte.
»Wieso macht die das dann nicht?«
»Machen Sie es«, sagte Frau Kemal, beugte sich weit zu ihm vor und hätte beinahe ihre Hand auf seine gelegt.
Birne war irgendwann in der Nacht schon mal näher dran gewesen, ja zu sagen. Im Moment kam ihm das alles wieder eigenartig vor.
Frau Kemal begann, in ihrer Handtasche zu kramen und nebenbei Birne zu beobachten, auch der Bruder schaute fest auf ihn. Birne war das unangenehm, er trank seinen Tee, der lauwarm wurde, sagte »Ich weiß nicht.«
Der Bruder lächelte ein ungeheuer gewinnendes Lächeln und sagte überhaupt nicht bittend: »Bitte.«
Birne wäre gern woanders gewesen. Frau Kemal hatte gefunden, wonach sie gewühlt hatte, und legte einen Schlüsselbund auf den Tisch: »Hier sind sie, die Schlüssel.«
»Können Sie vielleicht heute schon rein? Mein Schwager hat eine sehr ungute Zeit im Gefängnis.«
»Oh ja«, bestätigte Frau Kemal ihren Bruder in einer Unterwürfigkeit, die ihm neu an ihr war. Die versuchten, ihn kleinzukriegen. Birne hatte generell ein Problem mit dem Neinsagen, hier war es besonders schwer.
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