Sie luden „ihren Esteban“ (= spanisch für Stefan) ein. Nach Acapulco, touristisches Mexiko-Highlight. „Ich wollte da nicht hin. 30 Stunden Fahrt, nur um Hotels und Strand zu sehen und Ausflüge zu machen, dorthin wohin die Mexikaner am liebsten reisen. Das war nicht mein Ding. Außerdem konnte ich mir das gar nicht leisten.“ Doch er musste sich gar nichts leisten, er musste mit, ohne Diskussion. Nadias Bruder gab keine Ruhe, er hatte Stefan wohl schon als seinen neuen Schwager auserkoren. Es kostete ihn keinen Peso, sie bezahlten alles. Der Mutter war es egal, ob sie für fünf oder sechs „Kinder“ aufkam. Und es wurde enger, mit Nadia. Sie erzählte Stefan so viel, er gefiel ihr, sie gefiel ihm. Und der Polizist, der Vater, wusste nun auch von der Schwangerschaft.
Stefan hatte nichts zu beichten. Aber er brachte Nadias Familie bei, was los war. Ausgerechnet er, der Gringo, vom Leben noch keine Ahnung. „Die Mutter fiel fast in Ohnmacht.“ Eine der Schwestern ebenso, Plingpling blieb cool. Der Bruder reagierte ruhig und blieb seiner Rolle als zurückhaltender Beschützer des Clans treu. Sein Leben würde er jederzeit für jenes der Familie hergeben. Aber die Mutter weinte: „Schon wieder ein Leben kaputt.“ Kein Studium mehr möglich, für Nadia, keine Schule, kein grüner Zweig, kein Leben. Sie schimpfte auf die Scheiß-Männer, drei Wochen lang, und beruhigte sich wieder. Aufgewühlt und müde. Jetzt musste nüchtern gedacht und gehandelt werden. Die beiden anderen Töchter, die gleichfalls hübschen, fragten Stefan, ob ihm Nadia gefalle. Plingplings Charme wirkte …
Zwillinge
Sie gefiel ihm, nach wie vor. So wie das Leben in Ciudad Serdan, bei der Mutter, Nadia, ihrem Bruder und dem ganzen Clan. „Dass ich mit gerade mal 21 das alles erleben durfte, war schon bewegend. Sie nahmen mich auf wie einen Sohn.“ Er hatte tagtäglich Mini-Highlights, und eigentlich hatte er ganz andere Pläne, war voller Tatendrang. Der Traum des Bergführer-Jobs wurde schwächer. „Mit ihr zieh ich es durch“, reiften die Gedanken, ganz langsam: Familie. Und schon kamen die sorgenreichen Fragen: „Bin ich zu jung? Bin ich reif genug? Für ein Kind. Ohnehin nicht von mir. Ich bin nur Landschaftsgärtner. Ich muss heim.“ Er kannte das, dieses Gefühlschaos, es begleitete ihn seit etlichen Jahren.
Sie landeten in München, Nadia und er. Schnurstracks ging es in seine 38-Quadratmeter-Intimsphäre in Jechling, Gemeinde Anger. In der Zeit, als er weg war, wohnte eine Röntgenassistentin dort. Er hatte sie rechtzeitig von seiner Rückkehr informiert. Sie zog aus, wie vereinbart.
Da standen sie plötzlich: Stefan, voller Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen nach seiner ersten langen Reise, mit erst 21. Und Nadia, so jung, gerade 18, hochschwanger, eine feurige Mexikanerin mitten in einem kleinen Dorf im tiefsten Oberbayern. Beim Nitzinger-Bauern holte sie unbedarft frische Milch und war schlagartig Gesprächsthema Nummer 1, im Ort. Das Kleinbürgertum hatte alles im Griff.
Stefan bürgte für sie, am Flughafen, damit sie nach drei Monaten nicht zurück musste. Ihr Touristenvisum galt nicht ewig. In München hatten sie ihn auseinandergenommen. Nach Strich und Faden. Knallharte Einwanderungsbehörde, ohne Gnade. Es erwischte ihn wie eine Lawine, total unvorbereitet: „Ich war ja so grün hinter den Ohren, so naiv. Ich dachte: Na ja, setze ich mich halt mal eine halbe Stunde hin.“ Sie filzten ihn rigoros, von Kopf bis Fuß und nach mehr. Nach Drogen, Alkohol, Schmuggelware. Stundenlang. Sie vermuteten alles bei ihm. Sogar Zuhälterei. Aber keinen harmlosen bayerischen Gringo, der einfach nur ein braver Familienpapa werden wollte. Sie fanden nicht mal Geld bei ihm, so blank kam er zurück. Sie ließen ihn gehen und blieben skeptisch zurück.
Stefan verstand das alles nicht. Er brachte doch nur seine Freundin mit. Hochschwanger. Das war freilich das „Sahnehäubchen“. Er brachte sie mit, in einen völlig neuen Kulturkreis, ein Schock für die junge Frau. Er rief seine Eltern an und teilte ihnen mit, dass er wieder hier sei und sie Hunger hätten. Die Eltern verwirrte die Wir-Form, in der ihr Sohn sprach. Sie brachten zwei Pizzen mit, sicherheitshalber. Und sahen die Überraschung, als sie in Stefans Wohnung kamen. „Sie waren erstaunt, klar, schlossen Nadia aber sofort in ihr Herz.“ Er klärte sie auf: Dass es gar nicht seine Kinder seien, die im Bauch seiner Freundin heranwuchsen. Kind er ? Er wusste nun, dass es Zwillinge werden würden …
„Die Leute sehen ohnehin nur das, was sie sehen wollen.“ Nadia war es sehr wichtig, dass er nach Außen der leibliche Vater sei. Und so war er der Vater. Punkt. Auf dem Papier wurde er das mit der Heirat im August 1992, amtlich beglaubigt, standesamtlich eingetragen in Anger, im Rathaus beim Bürgermeister Graßl, gleich neben der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt. Zur Party fuhren sie – er jetzt „schon“ 22 – nach oben, zum „Deifei“ (Baamhacke) am Högl, wenige hundert Meter über dem Ort, in eine Art Dorf-Disco. Der Aufenthalt bis in die frühen Morgenstunden war dort gesichert und mit dem Trauschein Nadias Aufenthaltsgenehmigung. Später holten sie die kirchliche Zeremonie nach, in Mexiko, 25 Leute waren dabei, vom Gleitschirmclub Albatros aus Bad Reichenhall. Drei Tage und drei Nächte feierten sie. Durch. Sogar Opa Willi, schon fast 70 damals, war live dabei, Anfang November 1993. Stefan noch im Krankenstand, Rehaphase, neun Monate nach seinem Absturz am Bischling ( siehe nächstes Kapitel „Das Leben kollabierte – Absturz II – Österreich“ ), extrem abgemagert und schwach auf den Rippen. Die Krankenkasse gab dennoch ihr Einverständnis. „Beim Hinflug ging’s mir brutal schlecht.“ In Mexiko wurde es besser. „Dort ging es mir irgendwie immer gut.“
So sind sie, die Guatemalteken
Nach der Feier ist er mit seinen Eltern „illegal“ über die Grenze nach Guatemala. Der Strom fiel aus, alles war dunkel, sie hätten warten müssen, wollten aber nicht. „Selbst schuld, wenn da keiner ist“, dachte sich Stefan. Er holte sein Rad, das er gut ein Jahr zuvor in Guatemala City ließ. Mit einem befreundeten Arzt – Dr. Ralf-Martin Kaukewitsch aus Freilassing – drehte Stefan im Anschluss noch eine Runde, zentrales Lateinamerika, das Fluggerät im Gepäck. Es ging wieder. Germana und Willi, Stefans Eltern, wollten noch nach Belize, mit dem Bus, und wurden gefilzt, regelrecht auseinandergenommen. Die entsprechenden Ein- und Ausreisestempel in den Pässen fehlten aufgrund der Nacht- und Nebelaktion zuvor an der Grenze. „Da hab ich meine Eltern ganz schön in die Bredouille gebracht“, sagt Stefan heute. Irgendwie schafften sie es aber doch, so wie er, der sich eines nachts zurück über die gestrenge Grenze nach Mexiko schleichen wollte. Doch die Guatemalteken erwischten ihn, löcherten ihn drei Stunden, filzten ihn wie zuvor seine Eltern und wollten 100 Dollar für jeden Tag, den er in „ihrem heiligen“ Land war. Sonst würden sie ihn für längere Zeit in einen üblen Knast werfen. Horrorszenarien türmten sich in seinem Kopf. Stefan dachte in diesem Moment nicht daran, dass er hätte behaupten können, er wäre nur zwei Tage (statt der tatsächlichen drei Wochen) in Guatemala gewesen. Er hätte bezahlt und alles wäre gut gewesen. „So weit kam ich in dieser prekären Situation aber nicht“, zu viele Gedanken flogen durch ihn. „Ich hab stattdessen völlig durchgedreht und einen Riesenaufstand gemacht. Spanisch konnte ich ja mittlerweile perfekt. Das wurde denen irgendwann zu blöd und sie rieten mir, mich rasch aus dem Staub zu machen.“ Das war das Beste, was ihm passieren konnte. Stefan schlich über eine große Grenzbrücke, rüber nach Mexiko: „Ich hatte total Schiss, dass die mich jetzt gleich rücklings erschießen würden.“ Er schaffte es. Auf der anderen Seite wurde er sofort freundlich in Empfang genommen. „Die Mexikaner wollten genau wissen, was da drüben los war, aus reiner Neugierde.“ Er erzählte ihnen alles. Sie lachten nur: „Ja, ja, so sind sie da drüben, in Guatemala. Schlimm.“
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