Der flötende Morgengesang der Vögel war das schönste, das sie kannte. Die Aneinanderreihung schwirrender Töne des Brachvogels, die abwärtsgehenden tiefen Töne der Bekassine. Das klip-klip des tjaldur , des Austernfischers, erweckte Frühlings- und Sommergefühle im Herzen.
Die Dachbodentreppe knarrte. Es war Vater, der früh zum Bootshaus wollte, das in der Ostbucht lag. Er wollte das Boot teeren und es für den nächsten Fischfang bereitmachen. Das Netz musste ausgebessert und die Leinen repariert werden. Sie hörte ihn im Keller poltern, er suchte etwas, das er mitnehmen wollte. Sigrid stand auf und zog sich an.
Bevor sie die Haustür öffnete, um in den Keller zu gehen, hörte sie die pfeifenden Stare, die emsig am alten Nistkasten, der am Schuppen hing, zugange waren.
Sie ging hinaus und um das Haus herum. Dort glaubte sie, eine kleine Maus zwischen den Steinwällen huschen zu sehen. Doch es war keine, sondern der kleinste Vogel des Dorfes, graubraun mit Stupsschwanz: músabróður , der Zaunkönig. Er ließ seine eindringliche Stimme, ein kräftiges charakteristisches Trillern, erklingen. Sein kugelrundes Nest hatte er tief in den Steinen versteckt, so dass man nicht herankam. Ein anderer kleiner, gräulicher Vogel wohnte ebenfalls in den Steinmauern, gewöhnlich in einem Meter Höhe. Er bewegte sich ruckend und stieß kleine Warnrufe aus. Es war der steinstólpa , der Steinschmätzer, dessen Nest mit Jungen man eher finden konnte.
Weiter unten am Pfad sah Sigrid einen hübschen kleinen Vogel, weiß und grau, mit schwarzer Zeichnung und langem, wippendem Schwanz. Das war die Bachstelze, die im Färöischen den vornehmen, königlichen Namen Erla Kongsdóttir trägt.
Sigrid liebte Vögel, sie atmete die morgendliche Luft ein und ging in den Keller. Erst musste sie auf das nátthúskassi , das Plumpsklo, hinter dem Schornstein im Keller.
Sie grüßte Vater. Er sammelte Eier ein, denn Mutter sollte für jeden eins kochen, um es mit auf den Ausflug ins Tal zu nehmen.
Die Hühner waren bereits hinausgegangen, sie liefen frei herum und grasten. Durch das Gras bekam das Eigelb eine hübsche dunkelgelbe Farbe. Sie gab den Hühnern Körner und goss frisches Wasser in die Schale.
Sigrid mochte keine Eier und würde ihres einem der Brüder geben. Sie erinnerte sich, wie sie welche essen musste, bis sie sich schließlich übergab. Seitdem konnte sie keine gekochten Eier ausstehen, ein Gefühl, das sie nie loswurde.
Alle im Dorf genossen den Sommer, während sie gleichzeitig hart arbeiten mussten, um zu überleben. Es war Anfang Juni. Die vier ältesten Kinder hatten Schulferien bekommen, um beim Torfstechen zu helfen. Das Haus erwachte zum Leben, die Kinder zogen sich an, plauderten und lachten, freuten sich über die Schulferien. Sie genossen das freie und gemütliche Familienleben, wenn sie im Torf arbeiteten. Anna kümmerte sich um Proviant für den Trupp. Er bestand aus tjógv , getrocknetem Lammschenkel, einem Laib selbst gebackenem Schwarzbrot, Eiern, Margarine, Salz und zwei Trockenfischen. Anna hatte am Vortag einen Kardamomkuchen gebacken, damit es am Nachmittag etwas Leckeres gab.
Als Letzte stand die vierzehnjährige Schwester auf, die morgens immer so müde war.
Sie ging nie gerne in den Keller, um zu machen . Aus Gewohnheit machte sie ihren Stuhlgang im Nachttopf, der in der Kammer auf dem Bett stand. Ein kurzes, sehr dickes Stück. Es sah immer gleich aus.
„Sigrid, komm her und leer den Nachttopf aus.“ Sigrid gehorchte.
Ness schaute in den Topf und lachte schallend. „Jetzt wird geleert, jetzt wird die Tonne geleert.“
Anna hatte Borghild, die im August zwei wurde, die Windeln gewechselt und sie hübsch angezogen. Ihre Schwester Sára sollte heute auf Borghild aufpassen. Um zehn Uhr waren alle bereit. Henry, der älteste der Jungen, trug Borghild in seinem leypur 1 auf dem Rücken.
Unterwegs kamen sie an Sáras Haus vorbei, wo sie Borghild abgaben. Alle Kinder freuten sich, Tante Sára oder Sáragumma, wie sie sie nannten, zu sehen. Sára war immer so lustig, fröhlich und heiter, viel lustiger als Mutter. Stolz wie eine Henne mit ihren Küken, kam Anna mit ihrer Kinderschar aus Uppi við Garð , das in der nordwestlichsten Ecke lag, und lief die drei Kilometer quer durch das ganze Dorf, um zum Torftal Richtung Südosten zu gelangen. Sie hatte viele Kinder und hielt den Rücken gerade, wohl wissend, dass Augen hinter den Gardinen und Pelargonienblumentöpfen ihr und den Kindern folgten. Die Jungen trugen das Essen in kleineren leypar auf dem Rücken. Sie liefen fröhlich vorneweg. Ness war ernst und Aksel wuchs nie aus dem Spielalter heraus.
Sie machten einen rund sieben Kilometer langen Spaziergang. Sigrid hielt Mutter an der Hand. Beide gingen nicht so schnell wie die Jungen, da Mutter immer schwerfällig und langsam lief. Sie kamen an vielen Schafen mit Lämmern vorbei, die Sigrid zählte. Schwester redete wie eine Erwachsene mit Mutter, sie redeten über ihren Kopf hinweg. Sigrid lauschte mit offenen Ohren, still und wissbegierig, sie hatte ein angeborenes gutes Erinnerungsvermögen. Im Tal angekommen, hatten die Jungen, Henry, Ness und Aksel, bereits das Schafsfleisch und Brot hervorgeholt, denn sie hatten immer einen Bärenhunger. Das Essen gab ihnen die Energie, die sie für einen Tag wie diesen brauchten.
Im Tal, hinter dem Malinsfjall, besaß Jóanis ein großes Stück Land, das er von seinem Vater, dem Bauern Janus, bekommen hatte. Es war ihr eigener Torfboden. Unter den Grassoden gab es erstklassige, feine Torferde. Der Torf musste immer im Frühjahr – Mai, Juni – gestochen werden. Es war so schwer, dass nur die Männer genug Kraft zum Torfstechen hatten. Sie waren vor einigen Tagen hier gewesen und hatten die Torfstücke in große Stapel gelegt, damit etwas von der Feuchtigkeit herausziehen konnte. Henry durfte dieses Jahr bei den Männern sein. Er war mit zwölf Jahren alt genug zum Torfstechen, und er fühlte sich erwachsen.
Erst wurde die oberste Grasschicht mit einem speziellen Spaten abgeschält. Danach wurde die nächste Schicht, die Torfschicht, vorsichtig mit dem Spaten in viereckige Torfstücke geteilt. Das Torfmoos war feucht und weich. Heute war es also die Aufgabe von Jóanis’ Familie, den Torf zum Trocknen auf den Rasen zu legen. Der Torf wurde dorthin gebracht und in gerade, ordentliche Reihen gelegt.
Schwester war hinter ihren Geschwistern her, ständig ermahnend.
„Seid vorsichtig und passt auf, dass der Torf nicht zerbricht.“
Sie sah ihre Geschwister streng an.
Ness schaute auf ihre gerunzelte Stirn und neckte: „Hygg nú illsinnabitin, hann hongur so síður í dag.“ Übersetzt etwa: „Seht die Zornesfalte (die Falte zwischen den Augen), heute sitzt sie sehr tief.“
Dann runzelte Schwester die Stirn noch mehr und versuchte, ihn zu fassen zu bekommen, doch lief er gewandt davon und erblickte ein laut krächzendes Tjaldurpärchen. Tjaldur ist ein Austernfischer, der Nationalvogel der Färöer, weshalb ich ihn in der Regel so bezeichne: Tjaldur .
„Kommt her, sie haben bestimmt Junge!“, rief er, und die Kinder beschlossen, nebeneinander in einer Reihe zu gehen, um das Nest mit den Eiern oder Jungen zu finden. Die erwachsenen Vögel schimpften. An einer Stelle lagen Kieselsteine zwischen Grasbüscheln. Dort waren drei frisch geschlüpfte, gräuliche Junge, die direkt auf den Kieselsteinen in einer kleinen Vertiefung, die das Nest bildete, lagen. Die Tarnung war hervorragend, sie ähnelten den Kieseln, hatten die gleiche gefleckte Farbe. Die Kinder freuten sich über die niedlichen flauschigen Vogelkinder, von denen zwei ganz trocken waren. Es war eine Art Hobby, Nester mit Eiern oder Jungen zu finden. Bald würden die Kleinen überall im Gras herumlaufen, während die Elternvögel sie verteidigten, auf sie aufpassten und fütterten.
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