Birita nahm ihre kleine Tochter in den Arm und dankte Gott dafür, dass die Geburt in dem kleinen Dorf Skælingur, auf der westlichen Seite von Streymoy, gut überstanden war. Das Dorf Skælingur bestand aus zwei Höfen, die durch ihre freie Lage Unwetter und Orkan schutzlos ausgeliefert waren. Es lag am Fuße des Berghanges, am Sund zwischen Streymoy und Vágar, der im Atlantik endete.
Hinter dem Dorf, nach Osten hin, erhob sich eine mächtige, pyramidenförmige, 768 Meter hohe Felsformation. Das war der Skælingur. Der Gipfel konnte nur von einer bestimmten Stelle aus mit guter Beinmuskulatur erreicht werden, nämlich von südlicher Seite. Vom flachen Plateau der Bergkuppe hatte man bei klarem Wetter eine wunderschöne Aussicht auf die meisten der achtzehn Inseln.
Biritas Tochter wurde Anna Katrina Sofie Frederikka Joensen getauft. Insgesamt brachte Birita acht lebensfähige Kinder zur Welt, vier Jungen und vier Mädchen. Die Familie ernährte sich von Schafzucht und den Ernteerträgen des Bodens, Kartoffeln. Es gab keinen Laden, keine Schule oder Kirche. Das nächste Dorf und die Kirche waren in Kvívík, das viele beschwerliche Kilometer entfernt lag. Es gab keinen Weg zum oder vom Dorf, nur einen kleinen Trampelpfad, der auch von den Schafen benutzt wurde. In die vielen Gebirgsbäche und Flussläufe hatten die Männer Steine zum Überqueren gelegt, damit man sie trockenen Fußes passieren konnte.
Im Winterhalbjahr und an regnerischen Tagen strömte das Wasser von den Bergen und bildete Wasserläufe, die in Jahrtausenden tiefe Furchen in die Abhänge gegraben hatten. Durch die schrägen Hänge verlief das Wasser eher horizontal und endete schließlich als rauschender Wasserfall in einer Schlucht und dem Meer. Regen und Quellwasser verliehen den Bergen ihre besonderen Formen.
Im Sommer konnten die Wasserläufe zu kleinen rieselnden Bächen schrumpfen, und einige trockneten völlig aus. Obwohl das Meer am Fuße des Skælingurs lag, gab es keinen Hafen. Kein Boot konnte an den senkrechten Klippen unter dem Dorf anlegen. Man kann sich nur darüber wundern, dass sich die Wikinger an diesem sturmumtosten Ort niederließen.
Die Kinder durften nicht allein über den Berg gehen, da sie in dem unwegsamen Terrain verunglücken konnten. Wenn Nebel aufzog, konnte man sich leicht verirren und in Lebensgefahr geraten. Stürmte es, durften die Kinder nicht draußen spielen, denn Windstöße und Orkane konnten leicht ein kleines Kind hochheben und mit sich über den Abgrund führen. Sie lebten und wuchsen in dem kleinen Dorf auf und spielten mit den Kindern des Nachbarhofes. Ihre Vorfahren gingen nicht in die Schule, doch nun sollten die Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen.
Anna wuchs also auf einem der beiden Höfe auf. Sie spielte mit ihrer Schwester Sára, wenn es ihr die Mutter erlaubte, das heißt, wenn die häusliche Arbeit getan war. Alle Kinder arbeiteten von klein auf. Die Tiere mussten gehütet werden, die Hühner brauchten Körner, Eier mussten eingesammelt, Schafe geschoren, Wolle zu Kleidung, Strümpfen und Fäustlingen verarbeitet werden. Das Brot musste gebacken werden. Die ganze Familie arbeitete im Torf und Heu und baute Kartoffeln und Rhabarber an. Es musste geschlachtet, gesalzen und getrocknet werden. Es musste gewaschen, gemolken und Essen gekocht werden und so weiter.
Anna und Sára hatten längst das Schulalter erreicht, als der Vater Heini eines Tages sagte: „Jetzt, Mädels, kommt ihr in die Schule.“ Die Mädchen hüpften vor Freude, dachten daran, dass sie von zu Hause fort sollten, hinaus in die große, weite Welt.
„Wie ist es auf der anderen Seite des Berges?“, fragten sie, und der Vater erzählte.
Birita sorgte für anständigen Proviant, bestehend aus s kerpikjøt , Trockenfisch, selbst gemachtem Sauerteigschwarzbrot und rullupylsur aus Schafsfleisch.
Der Tag war hell und trocken, die Sonne schien, und der Wind hatte sich gelegt. Der Vater ging voran. Es gab keinen Weg, keinen Pfad, doch oben auf dem Höhenzug standen in regelmäßigen Abständen Steinpyramiden, denen sie folgten. Steinpyramiden wurden in alten Zeiten von Männern errichtet. Es waren große Steine, die übereinander gelegt wurden, damit man auch im Nebel den Weg fand. Es war schwierig, steil, steinig und sumpfig nach dem Regenwetter der letzten Zeit. So weit wie möglich folgten sie den Pfaden, die die Schafe gelegt hatten. Solche Pfade wurden rás genannt.
Unnötige Reise, dachte der Vater, Schule ist Unsinn. Dadurch lernen die Kinder nicht besser zu arbeiten. Mädchen sollen heiraten. Sie sollen eine Familie gründen und für das Überleben der nächsten Generation sorgen. Dafür braucht man keinen Schulbesuch. Doch er ging trotzdem.
Ganz oben hielten sie an, jeder setzte sich auf einen Stein. Sie hatten den Pass erreicht.
Gegen Süden erhob sich der pyramidenförmige Skælingur und gegen Norden ein Berg, der Sátan hieß, was Heuhaufen bedeutet. Er war oben rund wie ein Heuhaufen, nicht kantig wie der Skælingur. Die Aussicht nach Osten und Westen war grandios mit Bergspitzen, Tälern, dem Meer und Inseln. Nachdem sie ihren Hunger und Durst gestillt hatten, gingen sie weiter. Jetzt ging es den Abhang hinunter, was sich in den Oberschenkeln bemerkbar machte.
Vater und Töchter erreichten nach mehreren Stunden das Dorf Kollafjørður, wo sie Verwandte hatten. Hier sollten Anna und Sára eine Weile wohnen, um in die Schule zu gehen. Sie lernten lesen und schreiben, und sie lernten die Zahlen. Insgesamt besuchten sie die Schule zwei Jahre lang, bevor sie konfirmiert wurden.
Als junge Mädchen wünschten sie sich, andere in ihrem Alter zu treffen. Sie träumten davon zu heiraten und ihre eigene Familie zu gründen. Die Eltern ließen die Mädchen ziehen. Anna und Sára reisten von zu Hause fort, hinaus ins Unbekannte. Sie kamen in das nördlichste Dorf mit der rauen, wunderschönen Natur und dem hohen, pyramidenförmigen Berg. Wie zu Hause, sagten sie, als sie den Berg sahen. Hier gehörten sie hin.
Jede bekam eine Stelle als Dienstmädchen bei einer Familie. Anna sollte beim Schmied arbeiten. Sie waren beide gut erzogen, fleißig und strebsam. Die Welt hatte sich für sie geöffnet.
Einst vor vielen hundert Jahren …
Es war Sommer, Tag und Nacht war es hell und das Meer spiegelglatt. Ein warmer Tag mit blauem Himmel. Das Boot mit den Segeln umrundete die Landspitze. Die Männer mussten mit den Rudern helfen. Sie waren wettergegerbt und vollbärtig. Das rötliche Haar von der Sonne ausgeblichen, die helle Haut sommersprossig und von der Sonne auf dem Meer verbrannt. Sie waren um die felsigen Inseln gesegelt und zur nördlichsten Insel mit der kleinen Bucht Richtung Osten gekommen, wo man an Land gehen konnte. Wetter, Wind und Brandung hatten diese Bucht gebildet, bei der man bei gutem Wetter an Land gehen konnte. Die Bucht erzählte stumm von den enormen Kräften des Meeres.
Die Männer betraten das Land.
Von Osten nach Westen erstreckte sich ein drei Kilometer langes, flaches, niedriges Tal, das im Westen zum offenen Meer in einer felsigen Bucht endete. Dieses Tal war die schmalste Stelle der Insel. Zu beiden Seiten dieses grünen Tales erhoben sich 800 Meter hohe, wilde Berge nach Norden und Süden. Nichts ist grüner als das Sommergras auf den Färöern. Hier konnte man Schafe und Kühe halten, es gab jede Menge Gras, das Meer war voller Fisch, konnte man sich mehr wünschen?
Irgendwann ließ sich eine kleine Gruppe Menschen in diesem Teil nieder, auf dieser schroffen, einsamen Insel, Viðoy, mitten im Atlantik. Sie hielten Schafe, die sich hier wohl fühlten. Die Berge hatten über Jahrtausende Unmengen großer Steine und Felsbrocken über das Tal und die Abhänge verteilt, hagi genannt – die Außenmark, unkultiviertes Land. Die Männer verwendeten die Steine, um niedrige Häuser mit Grasdächern zu bauen. Die Häuser wurden eins mit den Felswänden, die sie vor Wind und Wetter schützten. Sie waren warm und trocken und hatten ein Loch im Dach, damit der Rauch von der Feuerstelle hinausziehen und frische Luft hineinkommen konnte. Eine Kirche wurde am westlichen Rand des Tales gebaut, der Kirchturm nach Westen gerichtet, wo die Sonne unterging.
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