Kristin lässt sich in ihrem Zimmer schluchzend auf ihr Bett fallen. Angst, Hass, Verunsicherung und Eifersucht erfassen sie wie eine mächtige Welle und tragen sie mit sich fort. Als sie wieder an Land geschwemmt wird, übernimmt die kleine Kristin die Führung.
Akureyri 1963
Der Sturm heult um das rote Holzhaus und rüttelt an den geschlossenen Fensterläden.
Kristin rekelt sich behaglich in ihrem Bett. Es ist dunkel in ihrem Kämmerchen wegen der geschlossenen Holzläden, aber auch wegen des Novembers, der das Tageslicht immer mehr verdrängt.
„Die Sonne scheint jetzt in Afrika und wärmt die Löwen“, so hat es ihr die alte Saga, ihre Oma, erklärt und die muss es ja schließlich wissen.
Kristin spitzt die Ohren. Unten in der Küche werkelt die Magd. Sie heizt sicher den großen Herd an und schiebt die Brötchen hinein. Die Treppe knarrt und ächzt. Sagas schwere Schritte kommen langsam nach oben. Sie öffnet die Tür zur Elternkammer und tritt ein. Die tiefe, rauchige Stimme der Oma mischt sich mit der hellen, jugendlichen von Kristins Mutter. Kristin lächelt in sich hinein, als sie an den dicken, runden Bauch der Mutter denkt. Da ist ihr Bruder Olaf drin und der kommt nun bald heraus und liegt dann wie das Jesuskind in der Krippe.
Sie freut sich auf das Brüderchen, auf Weihnachten und auf den neuen Pullover. Sie hat im Sommer gesehen, wie die Oma fleißig die Stricknadeln in ihren knochigen Händen bewegte, am Abend, als Kristin eigentlich schon hätte im Bett sein sollen. Sie musste aber noch einmal auf das Klohäuschen und da sah sie durch den Spalt der Stubentür, wie die Großmutter das Strickteil der Mutter zeigte und sagte, dass es für sie, Kristin, sei.
Schnell schlüpft Kristin in die bereitgelegten Kleider, bindet sich das Schürzchen um und geht zur Mutter.
Hekla blickt ihre Tochter zärtlich an, als diese sich bückt, um einen Wollschal aufzuheben. „Bald ist es soweit“, meint sie und ein Lächeln zieht sich über ihr bleiches, aufgequollenes Gesicht und nimmt ihren blauen Augen für einen kurzen Moment die Müdigkeit der letzten Wochen.
Sie sieht aus wie der große Walfisch, den die Fischer gestern an Land gezogen haben, denkt Kristin grinsend und schmiegt sich an den dicken Bauch der Mutter. „Woher weißt du, dass es ein Junge wird? Vielleicht kommt auch ein Mädchen.“ In ihrer Stimme schwingt Hoffnung mit.
Die Mutter lacht. „Die Elfenkönigin vom großen Lavahügel hat es der Saga verraten. Aber ich vertraue dir ein Geheimnis an. Über so ein liebes, kleines Mädchen, wie du es bist, würde ich mich auch sehr freuen.“ Sie streicht ihrer Tochter zärtlich über den Kopf und flicht mit raschen Fingern deren aschblonde Haare zu einem Zopf.
„Jetzt lass uns runtergehen. Das Frühstück ist sicher schon fertig.“
Leicht hüpft Kristin die Treppe hinunter. Hekla folgt ihr langsam und bedächtig.
In der Küche haben sich bereits alle um den schweren Holztisch versammelt. Der Bauer, die zwei Knechte, die Oma und die Magd. Schnell nimmt Kristin neben ihrer Großmutter Platz, während sich Hekla schwer auf den Stuhl neben ihrem Mann Magnus gleiten lässt. Kristin entgeht der kurze, liebevolle Blick nicht, den die Eheleute miteinander tauschen. Ein kurzes Gebet, dann nehmen sie schweigend das Morgenessen ein.
Ihrer Familie geht es gut. Sie besitzen eigenes Land, Schafe, Pferde und ein paar Milchkühe. Käse, Milch, Haferbrei und frisch gebackene Brötchen kommen jeden Tag auf den Tisch und im Vorratsraum hängt Trockenfisch für den langen Winter. Sogar ein paar Säcke Weizen lagern dort. Sie sind nicht so arm wie die Fischer, die mit ihren kleinen Booten auf dem rauen Meer ihr Brot verdienen müssen. Oft ein gefährliches Unterfangen. Kristin kennt einige Familien, in denen der Vater, Bruder oder Onkel nicht mehr zurückgekommen ist. Sie hat Angst vor der grauen, tobenden See, die sich mit hohen, schäumenden Wellen an die Klippen wirft und diejenigen in die Tiefe reißt, die ihr nicht den nötigen Respekt zollen. Kristin weiß, dass sie nicht allein am Strand oder gar auf den Klippen spielen darf. Saga hat ihr vom großen Wassergeist erzählt, der nur darauf warte, ungehorsame Kinder in sein grünes Muschelschloss auf dem tiefen Grund des Meeres zu verschleppen.
Als der große Küchentisch abgeräumt ist, Magnus und die Knechte wieder ihrer Arbeit nachgehen, rücken die Frauen ihre Stühle näher an das Herdfeuer und beginnen mit ihren Handarbeiten. Socken und Hemden müssen geflickt und schwere, dicke Pullover für die Männer bis Weihnachten fertiggestrickt werden.
Kristins Mutter arbeitet emsig an einem Babyjäckchen, während ihre Tochter an einer wollenen Überdecke strickt, die ein Geschenk für das Geschwisterchen werden soll.
Draußen tobt der Sturm ums Haus und treibt Schneewolken vor sich her. So kalt, dunkel und unwirtlich es draußen ist, so heimelig und hell ist es in der Küche. Kristin fühlt sich geborgen und sicher. Erwartungsvoll schaut sie zu Saga hinüber.
„Oma, bitte erzähl uns etwas von den Trollen oder noch besser von der Elfenkönigin, die in der Alfaborg lebt. Sag, gibt es wirklich gute und böse Elfen?“
Saga scheint sie nicht gehört zu haben. Sie sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl, die Wolldecke über die Beine gebreitet und starrt in das lodernde Herdfeuer. Ihre sonst so emsigen Hände liegen gefaltet in ihrem Schoß. Zerfurcht und verrunzelt erinnern sie Kristin an braune Lavasteine. Sie weiß nicht, was ihr mehr Unbehagen bereitet, der starre Blick oder die untätigen Hände. Sie schaut hilfesuchend zu ihrer Mutter. „Was ist mit Oma?“, flüstert sie.
„Sie wird müde sein. Lass sie in Ruhe.“ Ihre Mutter scheint die Schwere, die plötzlich über dem niedrigen Raum schwebt, nicht zu spüren. Sie stemmt sich mit beiden Händen am Tisch ab und erhebt sich schwerfällig. „Ich lege mich eine Weile aufs Bett. Ich bin so müde“, entschuldigt sie sich, hüllt ihre Strickarbeit feinsäuberlich in ein Stofftuch, legt sie ins Regal und stapft mit schweren Schritten die Treppe hinauf.
„Saga, was siehst du?“, fragt nun die Magd und blickt bang zu der alten Frau, auf deren faltigem Gesicht die Flammen unruhige Schatten zeichnen.
„Nichts Gutes. Es kommt Unglück über uns! In der Nacht sind Elfen an unserem Haus vorbeigezogen. Sie haben ein trauriges Lied gesungen.“ Saga spricht leise und hält ihren Blick weiter auf die Flammen gerichtet. „Sie haben mit ihren langen Armen auf unser Haus gezeigt.“ Jetzt zittert sie am ganzen Körper. Kristin springt auf und greift nach ihren Händen. Wie kalt sie sind! Wie aus der Trance erwacht, schaut die Alte ihre Enkelin an. Ihre Augen scheinen das Kind jedoch nicht wahrzunehmen, ihr Blick geht durch sie hindurch. Tief und dunkel.
„Unglück kommt“, murmelt sie vor sich hin. „Ein schweres Unglück.“
„Was wird passieren?“, fragt die Magd ängstlich.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Saga, schüttelt sich und richtet sich auf. „Lasst uns mit der Arbeit fortfahren, sonst werden wir bis Weihnachten nicht fertig.“
Der Dezember bringt viel Schnee. Der Sturm tobt und heult weiterhin mit unverminderter Kraft ums Haus. Die Tage vergehen langsam in der nicht enden wollenden Dunkelheit.
Kristin zählt voll angstvoller Ungeduld die Tage bis Weihnachten. Wenn erst das Christkind da ist, dann kann ihnen das Unheil nichts mehr anhaben.
Der Tag vor dem zweiten Advent beginnt mit einer schicksalsträchtigen Unruhe. Während Kristin sich in ihrer Kammer ankleidet, hört sie aufgeregte Schritte auf der Treppe. Hinauf und hinunter. Vertraute und fremde Stimmen, immer wieder werden Türen geöffnet und geschlossen. Alles mündet im Zimmer ihrer Mutter, wie große Wellen, die auf das Land zulaufen. Kristin öffnet vorsichtig die Tür, linst durch den Spalt auf den schmalen Flur und spitzt die Ohren. Seufzen und Stöhnen, ab und zu kleine, spitze Schreie. Ihr Herz schlägt unruhig. Was hat das alles zu bedeuten? Plötzlich eilt eine fremde Frau in das Zimmer ihrer Mutter. Kristin erstarrt. So rote Haare hat sie noch nie gesehen. Das kann nur eine Elfe sein. Mit einem Schrei rennt sie die Treppe hinunter und landet direkt in den Armen der Großmutter.
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