Julia fühlt sich plötzlich unbehaglich. Den Elfengarten wird sie sicher nicht besuchen. Allein schon der Gedanke daran, vermittelt ihr Unbehagen. Sie hüllt sich fester in ihren breiten Wollschal und steckt die Hände in die Taschen. Irgendetwas ist da, das sie unangenehm berührt. Eine Kühle hüllt sie ein, die nicht nur von der feuchten Meeresbrise herrührt.
„Ich glaube, ich möchte langsam ins Hotel zurück. Ich bin ziemlich müde“, murmelt sie. Lisas ständiges Reden und Lachen gehen ihr mit einem Mal auf die Nerven.
Als sie an einem hellblauen Haus vorbeikommen, meint sie noch dazu, wieder die spitzen Blicke von heute Mittag im Rücken zu spüren. Als sie sich umdreht und zu den Fenstern hinaufblickt, werden hastig Gardinen zugezogen.
Julia beschleunigt ihre Schritte. Nichts wie weg! Die erstaunte Lisa folgt ihr mit kleinen Trippelschritten. Ein bisschen außer Atem erreicht sie nach Julia die Drehtür des Hotels.
„Habe ich Sie irgendwie verärgert?“, fragt sie verunsichert. „Ich weiß, manchmal rede ich zu viel. Das dürfen Sie mir ruhig sagen.“ Sie blickt Julia treuherzig an.
„Nein, das hat nichts mit Ihnen zu tun. Ich bin einfach nur müde und möchte mich jetzt hinlegen. War doch alles ein wenig viel heute. Bis morgen dann.“ Julia hastet die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Mit zitternden Händen schiebt sie die Karte in den Schlitz. Ihr Herz klopft und sie spürt einen unangenehmen Druck im Magen. Sie knipst, trotz der Helligkeit der Mittsommernacht, die kleine Nachttischlampe an und zieht die Vorhänge fest zu. Die Elfen und die bösen Blicke sind jetzt erst einmal ausgesperrt.
Julia lässt sich aufs Bett fallen. Vielleicht hätte sie auf ihre Mutter hören und nicht hierherkommen sollen. Wer weiß, was hier noch alles geschehen wird?
Sie kuschelt sich unter die Bettdecke und löscht das Licht.
„Morgen ist ein neuer Tag und wir werden mit dem Bus unterwegs sein. Da bin ich in der Gruppe und in Sicherheit“, redet sie sich selbst gut zu. „Wahrscheinlich bin ich wirklich übermüdet. Schluss mit der blöden Angst.“ Langsam beruhigen sich ihre Gedanken, der Druck lässt nach und eine angenehme Müdigkeit hüllt sie ein.
Kristin
Ein paar Häuser weiter, lässt sich das Ungute nicht so einfach vertreiben.
Kristin steht am Fenster und genießt den Ausblick. Sie liebt das helle Sonnenlicht, das, obwohl es schon auf zehn Uhr abends zugeht, die Lupinen vor ihrem Haus mit einem warmen Schimmer überzieht und in ein violettes Meer verwandelt. Zwei Frauen spazieren an ihrem Haus vorbei. Wahrscheinlich Touristinnen aus dem nahen Hotel. Eine klein und rundlich, die andere zierlich mit leuchtend roten Haaren. Kristin lehnt sich weiter aus dem Fenster. Das kann doch nicht wahr sein! Tatsächlich! Elins Tochter!
Jetzt starrt sie auch noch zu ihr herauf! Kristin zieht mit einem Ruck die Gardinen zu und tritt schnell vom Fenster weg. Ihr Herz klopft zum Zerspringen. Sie wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Was will sie hier? Möchte sie Kontakt zur Familie? Ist Elin auch auf Island? Fragen über Fragen.
Kristin läuft wie ein gefangener Tiger in ihrem Wohnzimmer hin und her. Sie spürt förmlich, wie das Schicksal näher und näherkommt. Bald wird es erneut zuschlagen. Und Carl ist auch noch nicht zurückgekommen, denkt sie ärgerlich. Was der wohl treibt?
Kristin kramt aus dem hintersten Eck ihrer Schreibtischschublade einen Flachmann hervor. Kurz zögert sie, dann setzt sie die Flasche an den Mund. Es ist lange her, seit sie das letzte Mal Wodka getrunken hat. Ach, heute hat sie ihn sich verdient. Eine Ausnahmesituation. Die Schärfe lässt sie husten. Sie setzt die Flasche noch einmal an. Der heutige Tag ist eine einzige Katastrophe. Eine Achterbahn der Gefühle. Auch mit Wodka lassen sich die Gedanken nicht einfach abschalten. In ihrem Inneren ist der Vulkan der Vergangenheit erwacht und brodelt heiß vor sich hin, steht kurz vor dem Ausbruch. Als sie endlich in einen unruhigen Schlaf fällt, kommt die kleine Kristin zurück und nimmt sie wieder mit auf die Reise in ihre Kindheit.
Akureyri 1964
Der Morgen bringt mit seiner Dunkelheit auch noch eine unheimliche Stille mit. Eine traurige Stille, die allerdings bald durch das Kommen und Gehen der Nachbarn und Freunde durchbrochen wird. Alle statten der Verstorbenen einen letzten Besuch ab und versammeln sich anschließend in der großen Küche zu einem Umtrunk.
Kristin tritt aus ihrer Kammer. Die Puppe fest an sich gedrückt, schleicht sie über den Flur. Vorsichtig drückt sie die Türklinke hinunter und stößt die Tür ein klein wenig auf. Da liegt doch die Mutter immer noch im Bett! Ach, sie ist ja so froh. Schnell eilt Kristin zu ihr. Doch irgendetwas stimmt nicht. Diese fremde Frau mit den starren, wächsernen Gesichtszügen und den heruntergezogenen Mundwinkeln ist nicht ihre Mutter. Hat die Elfenfrau sie etwa verzaubert, sie gegen eine Puppe ausgetauscht? Zaghaft berührt sie die auf der Decke liegenden, gefalteten Hände. Eiskalt! Kristin weicht erschrocken zurück, dreht sich um, rennt aus dem Zimmer und versteckt sich unter ihrer Bettdecke.
Die Tage vergehen in dumpfer Traurigkeit, die auch dem Weihnachtsfest, auf das sich Kristin so sehr gefreut hat, den hellen, feierli-chen Glanz nimmt. Es gibt keinen Baum mit Strohsternen und Goldengeln und auch keinen flauschigen Wollpullover.
Katla, Sagas erstgeborene, unverheiratete Tochter, zieht ins Trauerhaus, um sich um das Baby zu kümmern. Sie löst die Hebamme ab, die endlich das Haus verlässt. Kristin atmet auf. Die rothaarige Frau ist ihr unheimlich, auch wenn die Oma gesagt hat, dass sie keine Elfenfrau sei. Trotzdem, irgendetwas hat sie mit dem Tod ihrer Mutter zu tun.
Die Tage werden allmählich wieder heller, der Winter mit seinen eisigen Winden zieht sich zurück und der Frühling flattert wie ein bunter Schmetterling über das Land. Menschen und Tiere atmen auf.
Auch Kristin fühlt sich leichter. Die Trauer verliert ihre Schwere, das Leben kehrt wie in die Natur, so auch in die Familie zurück.
Kristins siebter Geburtstag fällt auf einen sonnigen Julitag, der im Garten mit einer großen Geburtstagstorte gefeiert wird. Endlich liegt auch der Weihnachtspullover fertig gestrickt auf ihrem Gabentisch.
Eines Abends, als Kristin noch einmal das Klohäuschen aufsuchen muss, wird sie ungewollt Zeugin einer lautstarken Unterhaltung zwischen ihrer Oma und ihrem Vater. Sie bleibt vor der geschlossenen Küchentür stehen und spitzt die Ohren.
„Du solltest Katla zu deiner Frau nehmen. Du weißt, dass sie dich liebt, schon immer geliebt hat. Hekla würde sich freuen, wenn ihre Schwester an ihre Stelle treten würde. Sie wäre den Kindern eine gute Mutter“, hört sie Saga sprechen.
„Ich habe mich damals in deine jüngste Tochter verliebt und nicht in Katla. Ich bin ihr sehr dankbar, was sie für Olaf und Kristin tut, aber ich kann sie nicht heiraten, weil ich mich in eine andere verliebt habe“, erwidert Magnus mit kalter Stimme. „Sie wird im Herbst hier als neue Bäuerin einziehen und sie wird den Kindern eine gute Mutter werden.“
„Das kannst du Katla nicht antun!“
„Ich habe ihr nie was versprochen. Das weißt du ganz genau!“
„Wer ist sie?“
„Steinunn, die Hebamme“, antwortet Magnus ruhig.
„Dieses rothaarige Weib mit ihrem Trollenkind?“, kreischt Saga. Das verhasste Bild einer anderen Frau drängt sich in den Vordergrund. Sigrún, Steinunns Mutter. Die Frau, die ihr damals Gustav weggenommen hat. Saga spürt, wie ihr die Hitze in den Kopf schießt.
„Weib, pass auf, was du sagst! Sie ist eine ehrwürdige Frau und ich liebe sie.“ Magnus schlägt mit der Faust auf den Tisch.
„Das ging ja schnell, dass du meine Tochter vergessen hast. Meinen Segen bekommst du jedenfalls nicht für diese Heirat. Sie wird uns mit ihrem Balg nur Unglück bringen, wie ihre Mutter damals über mich Unglück gebracht hat“, kreischt Saga.
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