„Sofort wieder rein!“ So hysterisch kenne ich mich gar nicht. Allerdings ist meine Angst vor traumatisierten Kindern so groß, dass ich die beiden nun ohne weitere Erklärungen barsch zurück in den Zug scheuche.
Erstaunlich, wie viel Licht so ein Handy erzeugen kann. Aber im Moment wäre es mir wohl lieber, wenn es nicht leuchten würde, denn was ich so nach und nach in seinem Lichtkegel zu sehen bekomme, sind Bilder, auf die ich gerne verzichten könnte. Am Abhang verteilt, finde ich immer mehr menschliche Fetzen. Als ich dicht bei den Gleisen das abgetrennte Haupt mit aufgerissenen Augen entdecke, schaff ich es gerade noch mit Mühe meinen Kopf zur Seite zu drehen, bevor sich mein Magen plätschernd über meine Füße entleert. Wieso passiert mir das auch immer wieder? Anscheinend werde ich mich nie an diese unangenehme Seite meines Berufes gewöhnen.
Benommen verwandele ich meine Taschenlampe zurück zum Mobiltelefon. In einem Automatismus rufe ich aus dem Speicher die Nummer meines jungen Kollegen Timo Gebauer auf und bestätige sie mit der grünen Taste. Obwohl sich auch Timo schon längst im Feierabend befindet, ist er noch vorm zweiten Klingeln am Telefon.
„Na Dieter, bist du noch beim Kinderpunsch oder genehmigst du dir schon einen Karlsruher Glühwein?“, trällert er fröhlich in die Leitung.
„Tttot“, beginne ich zu stottern, „zzzerfetzt“, höre ich mich noch sagen, bevor sich ein weiterer Schwall Mageninhalt vor mich ergießt.
„Langsam, Dieter, ganz langsam, was ist los bei dir?“, nun ist es meinem Kollegen nicht mehr zum Scherzen zumute.
„Vom Zug erfasst“, werden meine Sätze nun wieder länger, „vermutlich ein Farbiger. Irgendwo auf dem Bahndamm zwischen Rohrbach und Kandel.“
„Okay, Dieter, ich schicke dir die Kollegen vom Streifendienst. Beruhige dich, ich komm auch hin, okay?“
Ohne weitere Worte drücke ich den roten Knopf. Im Stockdunkeln starre ich in die Richtung, in der der Kopf liegt. In meinen Gedanken schaut er mir direkt in meine Augen. Deutlich kann ich spüren, wie der Restinhalt meines Magens sich nun wieder den Weg durch die Speiseröhre in meinen Kopf sucht. Während ich mir mit meinem Ärmel über den Mund wische, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Auch ohne mich umzuschauen weiß ich, dass es sich um die Hand meiner Frau handelt, die mich berührt.
„Dieter, wir brauchen dich da drinnen“, sagt sie mit ruhiger, fester Stimme.
„Ich wüsste nicht, was ich drinnen tun könnte. Ich weiß nicht, was ich hier überhaupt tun könnte. Ich wollte, wir wären überhaupt nicht hier, Schatz.“ Nur mit Mühe kann ich die Tränen unterdrücken.
Da bin ich nun Dienststellenleiter und kann den Anblick einer Leiche nicht ertragen. Ich weiß nicht, wie das die Fernsehkommissare machen, die stolzieren durch den Tatort und achten dabei cool auf jedes erdenkliche Detail. Also mir geht es immer noch nahe, wenn ein Mensch sein Leben lässt. Ich sollte üben auszublenden, dass die Leichen auch ein Leben hatten. Auch dass sie sicher eine Familie hatten und vielleicht sogar Kinder hinterlassen, sollte mich keinesfalls in meiner Objektivität beeinflussen.
Das sind alles Sprüche unseres Betriebspsychologen, bei dem wir regelmäßig zur Supervision müssen. Pah, Psychologen, die haben gut reden, sitzen zu Hause am Kamin und ich habe hier die Sauerei.
„Komm, Dieter, der Lokführer sieht überhaupt nicht gut aus“, reißt Natalie mich aus meinen Gedanken, „rede du bitte einmal mit ihm.“
Hinter der verschlossenen Tür zum Fahrerstand sitzt ein großgewachsener Mann, ein Kerl wie ein Bär, um die zwei Meter hoch und sicher einhundertfünfzig Kilo schwer, würde ich sagen. Das kreidebleiche, schweißgebadete Gesicht will allerdings nicht so recht zu dem Sumoringertyp passen. Auf mein Klopfen hin reagiert er nicht. Einen Türdrücker suche ich vergeblich, was kein Wunder ist, wenn man so hört, was mancher Lokführer schon so über sich ergehen lassen musste. Da ist es ja nur logisch, dass die Tür zum Fahrerstand nur von innen zu öffnen ist. Jetzt wäre es allerdings wünschenswert, wenn ich zu dem apathisch dreinschauenden Mann vordringen könnte.
Mit lauter Stimme versuche ich ihn zum Öffnen der Tür zu bewegen. Doch noch immer starrt er auf die blutverschmierte Frontscheibe. Gut kann ich mir vorstellen, was sich in seinem Kopf abspielt. Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht ein menschlicher Körper aus der Dunkelheit auf, innerhalb eines Sekundenbruchteils klatscht es und du kannst dabei zuschauen, wie es den Körper in Stücke reißt. Was dieser Mann gesehen hat, möchte ich niemandem im Detail zumuten.
„Ich weiß, dass Sie schreckliche Dinge gesehen haben“, versuche ich die Flucht nach vorne, „bitte öffnen Sie die Tür, damit wir reden können.“
Irgendwie scheinen meine Bemühungen Früchte zu tragen, denn langsam, fast wie in Zeitlupe, dreht sich der stämmige Mann samt Sitz in meine Richtung. Von vorne sieht er noch schlimmer aus, als ich es vermutet hatte. Was will ich auch erwarten, schließlich hat er vor wenigen Minuten den Tod persönlich gesehen.
Ganz langsam hebt er die ebenfalls kreidebleiche, schweißnasse Hand an, um sie dann auf die Türklinke fallen zu lassen. Da sich die Tür nun öffnet, kann ich viel leiser sprechen: „Kann ich etwas für Sie tun? Die Polizei habe ich bereits verständigt.“
„Ich kann nicht mehr“, beginnt er kaum verständlich zu flüstern, „ich will nicht mehr. Das war bereits der Dritte.“ Mit diesen Worten beginnt der Kleiderschrank von einem Mann bitterlich zu weinen. Im Affekt nehme ich seinen Kopf, um ihn an meine Schulter zu betten.
Jetzt erst fällt mir der säuerliche Geruch in der Fahrerkabine auf. Beim Blick auf seine Schuhe wird mir schlagartig klar, dass auch er seinen Mageninhalt nicht bei sich behalten konnte.
Etwa zehn Minuten sind noch vergangen, bis der einsame Bahndamm zum Leben erwachte. Inzwischen suchen etwa ein Dutzend Schutzpolizisten mit Strahlern den Bahndamm ab. Sanitäter kümmern sich um die Blessuren der Fahrgäste, Fahrzeuge der Feuerwehr leuchten vom benachbarten Wirtschaftsweg den Bahnabschnitt aus und in der Fahrerkabine kümmert sich ein bahneigener Psychologe um unseren Lokführer.
Draußen sind auch zwei Reisebusse vorgefahren, um die Fahrgäste nach Karlsruhe zu bringen. Die Evakuierung findet selbstverständlich über die in Fahrtrichtung rechte, also die blutfreie Seite des Zuges statt.
Wer nun noch fehlt, ist Timo, der uns doch abholen wollte. Meine Kinder habe ich in dem Glauben gelassen, dass der Zug mit einem Wildtier zusammengestoßen wäre. Sie spielen wieder »Stein, Schere, Papier«, wobei ich beobachten kann, wie Maik seine Schwester besiegt.
„Scheiß Psychokasper!“, schreit plötzlich der Zugführer, der anscheinend wieder zu Kräften gekommen ist. „Ohne euch wäre ich inzwischen umgeschult oder pensioniert. Aber nein, ich musste ja wieder auf den Bock, so wie ein Kind, das vom Pferd gefallen ist. Ihr scheiß Fachidioten solltet euch so lange ins Führerhaus setzten, bis ihr wisst, wovon ihr redet.“
Ich kann ihn gut verstehen, auch ich werde noch lange an den Dingen zu kauen haben, die ich da draußen gesehen habe.
Nun wäre es an der Zeit, einmal was Angenehmes zu sehen, das mir auch genau in diesem Augenblick gelingt. Auf dem Wirtschaftsweg kommt der Dienstwagen von Timo gefahren, gefolgt von einem weiteren mir bekannten Auto. Es ist das Auto von Martin Schneider, einem Spurensicherer, mit dem ich seit langer Zeit befreundet bin. Zweimal habe ich schon in seinem Ferienhaus in Gossersweiler-Stein gewohnt. Aber das sind andere Geschichten. Wenige Sekunden später befinde ich mich auf dem Weg zu meinen Kollegen, um sie zu begrüßen.
„Sorry Dieter, es wurde etwas später“, begrüßt mich Timo, „ich habe in Kandel noch auf Martin gewartet, da er hier nicht besonders ortskundig ist.“
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