Und mittendrin im Gewirr der Illustrationen: seltsame Felszeichnungen, die Talbewohner unverblümt mit „astronauti“ betiteln. Seit Jahrzehnten geistern sie in schlechter Fotoqualität oder dilettantisch abgezeichnet durch die grenzwissenschaftliche Literatur. Aber kaum einer hat sie persönlich zu Gesicht bekommen. Das machte mich stutzig, skeptisch und neugierig zugleich. Gewissheit konnten nur persönliche Recherchen vor Ort erbringen. Also begab ich mich auf die Jagd nach den legendären „Steinzeit-Astronauten“ im Val Camonica, sprach mit führenden Felskunstexperten, diskutierte mit Forschern gängige sowie alternative Denkmodelle und besichtigte Fundplätze, die touristisch noch gar nicht erschlossen sind.
Man könnte annehmen, die Felsbildkunst würde sich auf einige wenige Gebiete wie das Val Camonica beschränken. In Wirklichkeit ist aber die gesamte Alpenwelt mit Piktogrammen und Felsritzungen durchzogen. Viele Bildmotive sind eher Zufallsfunde, manche hat man wieder vergessen oder sie wurden von Vandalen und Umwelt zerstört, andere sind wiederentdeckt worden oder müssen noch entdeckt werden. Die wichtigsten Fundorte können besichtigt werden. Vorausgesetzt, man ist gut zu Fuß, weiß von ihrer Existenz und hat Kenntnis ihrer genauen Lage. Mein Streifzug zu den letzten Rätseln unserer Vergangenheit führte mich weiter zu prähistorischen Kultplätzen in Österreich und der Schweiz. Eine auffällig identische Symbolik lässt vermuten, dass es bereits in der Steinzeit Verknüpfungen zum Felsbildheiligtum in Norditalien gegeben hat. Das verraten die geometrischen Ritzungen in Carschenna im Kanton Graubünden genauso wie die seltsamen Felsgravuren von „Sonnenrädern“ und „Himmelsleitern“ in der Kienbachklamm im Salzkammergut oder das rätische Schrifträtsel am Schneidjoch in Nordtirol. Auch Südtirol mit den Dolomitensagen (und verblüffend ähnlich lautenden Legenden „fliegender Menschen“ und antiker Flugvehikel aus dem alten China) spielt bei der kosmischen Nachforschung eine bedeutende Rolle.
Bei der Erkundungstour begleitete mich – wie fast immer im letzten Jahrzehnt – meine Lebenspartnerin Elvira Schwarz aus Basel. Viele Fotos in diesem exklusiven Report stammen von ihr. Die wertvollste Stütze bei der „Alpen-Mysterytour“ waren ihre sorgfältigen Reisevorbereitungen und das fremdsprachliche Talent. Und natürlich vagabundiert man im Zweiergespann stets angenehmer und amüsanter zu geheimnisvollen Stätten. Was es an Strapazen, Entdeckungen, Kameramotiven und allerlei Staunenswertem zu erleben gab, davon erzählen die folgenden Seiten in Wort und Bild. Steinzeitliche Alpen-Astronauten? Unglaublich, aber wahr! Wer ihren himmlischen Fährten folgt, darf sich auf handfeste Überraschungen gefasst machen. Überzeugen Sie sich selbst!
„In ihrer ganzen Großartigkeit wird die vorgeschichtliche Zivilisation niemals erkannt werden; zu viel ist durch die Verwüstung der Zeit, durch menschliche Vernachlässigung und Vandalismus verloren gegangen.“
Richard Rudgley, britischer Ethnologe
Die Entdeckung fantastischer Bilderwelten
UNVERSTANDENES ERBE
Wohl jeder kennt den Sinnspruch „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“. Wenn wir diese Idee mit einer Drittelmillion multiplizieren, sind wir in Val Camonica gelandet. Das rund 70 Kilometer lange Tal liegt am südlichen Alpenrand in der Lombardei. Es erstreckt sich im Norden ab der Ortschaft Edolo, führt entlang des Flüsschens Oglio und mündet gegen Süden in den kleinen Iseosee zwischen Bergamo und Brescia. Hier begegnen Forscher und Wanderer auf Schritt und Tritt einem reich illustrierten Multiversum voller fantastischer Geschichten, Gedanken und Spiegelbilder des Lebens.
Der revolutionäre Geistesblitz schlug in der Alpenregion mit dem Ende der letzten Eiszeit ein, verbreitete sich über die Jahrtausende in immer komplexeren Formen und endete ziemlich abrupt mit der Zeitenwende. Die Urväter haben uns eine unbegreifliche Bilderflut an Wundern und Wissen hinterlassen. Diese Zeugen der Vorzeit wurden – fein eingeritzt – auf Steinplatten, Felswänden und Monolithen verewigt. Die einzelnen Motive sind oft nicht größer als wenige Zentimeter. Doch wer sie einmal entdeckt hat, kann sich ihrer Faszination nicht mehr entziehen. Als bevorzugte Themen wählten die Steinzeitkünstler einfache Abbilder des Alltagslebens, naturalistische Wiedergaben von Tieren, bewaffnete Krieger im Kampf und Szenen der Jagd. Solche Darstellungen sind unmissverständlich. Dagegen haben geometrische Bildersymbole und figürliche Begriffzeichen ihr Geheimnis bewahrt. Verwirrende Spiralen, Labyrinthe, Schlangenlinien, Rauten, Netz- und Zickzackmuster sowie einfache und mehrfache Ringe mit „Strahlenmustern“ – was war damit gemeint? Und wieso zeigen Felsbilder auf der ganzen Welt typologische Ähnlichkeiten mit der Galerie aus Val Camonica?
Val Camonica in der Lombardei: atemberaubende Landschaft entlang des Oglio
Erstaunliche Analogien: Val Camonica/Italien; Narigua/Mexiko; Ballygowan/Schottland; Galicien/Spanien; Lombo da Costa/Portugal; Carschenna/Schweiz (v.o.n.u.)
Dazu passt eine vor wenigen Jahren gemachte Entdeckung in der Wüste bei Narigua im mexikanischen Bundesstaat Coahuila. Hier fanden Archäologen rund 500 Felsen mit Abertausenden Abbildungen, darunter schwer deutbare, abstrakte Muster. Viele der Felszeichnungen (Petroglyphen) zeigen „Cup-and-Ring-Markierungen“. Es sind dies konzentrische Kreissymbole und Spiralen, die hierzulande „Schälchen“ oder „Näpfchen“ genannt werden. Der Durchmesser und die Anzahl der Ringe variieren. Erst 2012 haben Wissenschaftler begonnen, die mexikanischen Funde genauer zu erforschen. Dabei stellte sich heraus, dass der Großteil der Zeichen bereits vor etwa 6.000 Jahren – mutmaßlich von Nomaden – mit Steinwerkzeugen in die Felsen geschlagen wurde. Wenn die Datierungen stimmen, sind die Ringmuster, die bevorzugt als „Sonnenscheiben“ gedeutet werden, älter als die Ebenbilder aus der europäischen Vergangenheit. Da wird der Betrachter stutzig: Warum sind Abbilder aus Altamerika nahezu identisch mit den Motiven der Alpenwelt und ebenso mit Felsgrafiken auf den Britischen Inseln? Gleiches gilt für Fundstellen im spanischen Galicien oder der neolithischen Felskunst im nordchinesischen Helan-Gebirge. Kann das wirklich nur Zufall sein? Wer hat wen, wann beeinflusst? Und was war die Initialzündung für den globalen Schaffensdrang? Wir wissen es nicht.
Die zentrale Frage zur frappanten Analogie weltweit hinterlassener Felsbilder ist immer dieselbe: Was haben die kryptischen Vorzeitbilder zu bedeuten? Sind es frühe archetypische Ursymbole aus dem kollektiven Unterbewusstsein, was die Gleichartigkeit in vielen Erdteilen erklären würde? Oder, auch wenn der Gedanke gewiss fantastisch anmutet: Besaßen Priester und Schamanen des Altertums überempirische Begabungen, um Informationen über große Distanzen hinweg auszutauschen? Konnten verborgene Energien nutzbar gemacht werden oder besaßen Priester hellseherische Fähigkeiten, von denen wir heute keine Ahnung mehr haben? Was wissen wir hypertechnisierten Facebook- und Twitter-Menschen wirklich über die Anfänge unserer Zivilisation und die Zeiten davor?
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