Noch eine kurze Bemerkung über die große tidenartige Bewegung als therapeutisches Werkzeug: Sie ist nicht in jedem Patienten deutlich spürbar. Wenn sie beobachtet werden kann, fühlt sie sich massiver an, mit einer allmählich anschwellenden Expansion von tidenartigen Flüssigkeitsfingern, die die Bündel von membranösen und faszialen Umhüllungen im gesamten Körper infiltrieren. Würde man Rande des Ozeans leben und sähe die heran flutenden Finger der Tide, die allmählich die Ritzen und Winkel einer Flussmündung am Meer füllen, so bekäme man eine Vorstellung, wie diese große Tide funktioniert. Während des zurück laufenden Musters ziehen sich die tidenartigen Finger von den membranösen und faszialen Bündeln zurück, um dann beim nächsten rhythmischen Zyklus wiederzukehren. Diese Tide ist ein kraftvolles therapeutisches Werkzeug. Man kann spüren, wie Dutzende oder Hunderte von winzigen membranösen und faszial-ligamentären Gelenkkorrekturen stattfinden – ein Bindegewebe, das sich aus einer Quelle angereichert hat, die es in seiner effektivsten Phase der lebendigen Funktion arbeiten lässt. Unsere teilnehmenden palpatorischen und sensiblen motorischen Fähigkeiten können lernen, diese Tide zu finden und zu nutzen, nicht notwendigerweise in jedem Behandlungsfall, aber oft genug, um es interessant und produktiv werden zu lassen, wenn sie sich dem Behandler zeigt.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass mir als Behandler und meinem Patient als Individuen Leben verliehen ist, das sich als Bewegung manifestiert. Wir erfahren die Ressourcen dieses Lebens auf allen Ebenen unseres Wesens, in unserem spirituellen Bewusstsein, in unserem Ego, unserem Geist, in den Emotionen und in den physiologischen Funktionsabläufen unseres namenlosen Körpers. Es ist offensichtlich, dass wir als Behandler diese vorhandene Bewegung als Schlüssel für Diagnose und Behandlung im Dienst unserer Patienten nutzen können. Ich möchte euch gerne mit der Frage zurücklassen: „Was ist der Schlüssel zu Bewegung?“
2.3. ANDREW TAYLOR STILL: ARZT – INGENIEUR – MENSCHENFREUND
Scott Memorial Lecture in Kirksvillle, Missouri, 1985.
Die Wissenschaft der Osteopathie ist das Studium des menschlichen Körpers, so wie er in Gesundheit funktioniert.
Dr. Andrew Taylor Still gab seine Entdeckung, die Wissenschaft der Osteopathie, am 22. Juni 1874 bekannt. Dies geschah nach Jahren des intensiven Studiums, der Beobachtung und Skepsis, der Trauer über Todesfälle in seiner Familie und der Berufserfahrung als Militärarzt im Bürgerkrieg sowie als Arzt im damaligen Grenzgebiet des amerikanischen Mittelwestens. Unzufrieden mit dem Wissensstand in der Medizin seiner Zeit, suchte er durch das detaillierte anatomisch-physiologische Studium der Funktion aller Strukturen im menschlichen Körper nach einem neuen, lebendigen Wissen. Sein Laboratorium bestand sowohl aus den Patienten, denen er täglich in der Praxis diente, als auch aus Tierbeobachtungen während seines Pionierlebens. Er war ein Ingenieur und ein Arzt, der Wahrheit in der Funktion der lebendigen Formen suchte. Seine ‚Entdeckung‘ bildete die Krönung und Synthese eines lebenslangen Studiums.
In seiner 25 Jahre nach dieser Entdeckung publizierten Autobiografie bekräftigte er die Wissenschaft der Osteopathie als praktikable, lebendige Erfahrung in jedem Einzelnen, der einen Weg zurück zur Gesundheit sucht. Dr. Stills Beitrag bei diesem Prozess war neben seinen detaillierten Kenntnissen der Anatomie und der Physiologie, so wie sie im gesunden Menschen funktionieren, auch die ihm eigene Begabung, seine Hände und sein Können zu nutzen, um die Ressourcen des lebendigen Mechanismus im Patienten je nach dessen Bedarf zurück in Richtung Gesundheit zu führen und zu leiten.
1910, nach rund 35 Jahren Praxis in der Wissenschaft der Osteopathie, publizierte Dr. Still sein Buch Forschung und Praxis und bestätigte darin erneut alles, was er schon 1874 bei seiner Entdeckung als wahr beurteilt hatte: die Anatomie, die Physiologie, die angeborene Vitalität in jedem lebendigen Menschen und die Möglichkeit des Arztes diesen grundlegenden anatomisch-physiologischen Mechanismus im lebendigen Patienten zu nutzen, um Gesundheit wiederherzustellen. Fünfunddreißig Jahre hatte er damit verbracht, diese Prinzipien zu erfahren. Dr. Still kannte die grundlegende Anatomie und Physiologie des lebendigen Körpers, war fähig, ein geistiges Bild von den Gesundheitsmechanismen im einzelnen Menschen zu empfangen und entwickelte einen geschickten manuellen Ansatz zur Korrektur der Körperphysiologie des Patienten, um deren Rückkehr zum gesunden Funktionieren zu leiten. Dr. Still kannte diese Prinzipien, und – noch wichtiger – er nutzte sie und beobachtete bei den Patienten, die seinen Dienst in Anspruch nahmen, das Resultat: eine von innen heraus sich vollziehende Rückkehr zur Gesundheit.
Die Prinzipien, die Dr. Still 1874 entdeckte, sind heute noch genauso anwendbar und wahr wie damals. Der Begriff ‚Prinzip‘ wird im Wörterbuch folgendermaßen definiert:
„1.Die ursprüngliche Quelle, Herkunft oder Ursache von etwas oder
2.eine natürliche oder originale Tendenz oder Grundlage.“
Diese Definitionen beschreiben die von Dr. Still vorgestellten grundlegendenKonzepte.
Es ist erfrischend, die Werke von Dr. Still zu lesen, und man findet leicht Hunderte von Zitaten, die die Eins-zu-Eins-Beziehungen zwischen Dr. Still und seinen verschiedenen Patienten betreffen. Durch seine Entdeckung erkannte Dr. Still, dass:
•diese aktiven Prinzipien und Konzepte inhärent im Geist, im Körper und in der Seele eines jeden Patienten leben,
•es die oberste Aufgabe des Arztes ist, für den Menschen „Gesundheit zu finden“ (denn: „Krankheit kann jeder finden“ ) 10,
•die Ressourcen des lebendigen Körpers dem aufmerksamen Behandler zur Verfügung stehen, damit dieser sich ein geistiges Bild machen kann, das sich – kombiniert mit palpatorischem Können – zum Evaluieren der Körperphysiologie im gesunden, kranken oder traumatisierten Zustand nutzen lässt,
•der lebendige Körper des Patienten Werkzeuge in sich trägt, mit denen man die im Patienten vorhandenen selbstheilenden Prinzipien fördern und zum Wirken veranlassen kann.
Im Vorwort von Dr. Stills Forschung und Praxis steht folgendes Zitat:
„Die Osteopathie beruht auf der Vollkommenheit der Arbeit der Natur. Wenn alle Teile des menschlichen Körpers wohl geordnet sind, besteht Gesundheit. Wenn dies nicht der Fall ist, ist die Wirkung Krankheit. Wenn die Teile neu angepasst sind, weicht die Krankheit der Gesundheit. Die Arbeit des Osteopathen besteht darin, den Körper vom anormalen Zustand in den Normalzustand anzupassen. Darauf weicht der anormale Zustand dem Normalzustand und das Ergebnis des Normalzustandes besteht in der Gesundheit.“ 11
Hier haben wir den Traum eines Ingenieurs: eine lebendige Maschine, die fähig ist, viele Lebensjahrzehnte gesund zu sein, eine Maschine, die der Ingenieur nutzen kann. Bei den verschiedenaltrigen Patienten, die in unsere Praxis kommen, müssen wir bedenken, dass es für jedes Lebensjahrzehnt einen ‚normalen‘ Zustand gibt. Vom Blickwinkel des Ingenieurs aus gesehen: Was bedeutet Gesundheit für diesen Mann oder diese Frau als Teenager? Wie verändert sie sich in demselben Menschen, wenn er oder sie in den Dreißigern oder Vierzigern ist?
Normale Gesundheit in der Körperphysiologie ist ein nicht zu definierender Seinszustand. Normal ist normal, eine lebendige Erfahrung und eine Grundlage des Lebens. Lässt normale Gesundheit sich auch nicht definieren, so kann man sie doch als zwei Funktionsebenen beschreiben: Eine ist die lebenslange grundlegende unwillkürliche Mobilität und Motilität der Körperpysiologie, und die zweite ist die willkürliche Mobilität der Körperphysiologie während unseres tägliches Lebens. Bewegung ist nicht Leben. Bewegung ist eine Manifestation des Lebens. Der Ingenieur-Arzt hat die Gelegenheit, sowohl unwillkürliche als auch willkürliche Mobilität in der Körperphysiologie seines Patienten zu untersuchen und die Qualität der Gesundheitsmechanismen in diesem Patienten zu bestimmen. Anders gesagt, die Manifestation von ‚Normalität‘ aus dem Inneren des Patienten heraus bringt die ‚Gesundheit‘ genannte Bewegung und Funktionsfähigkeit, hervor, damit sie sich dem beobachtenden Ingenieur zeigen kann. Da es das Ziel eines jeden Patienten ist, zur Normalität zurückzukehren, ist es für den Behandler wichtig zu wissen, wie von innen heraus funktionierende Gesundheit bei dem jeweiligen Patienten aussieht.
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