Er wird es notwendig finden, eine andere Behandler-Patient-Beziehung zu entwickeln, denn der Osteopath hört bei dieser Art zu behandeln im Wesentlichen auf, der Macher zu sein, und erlaubt stattdessen – ich habe es schon gesagt – der inneren physiologischen Funktion, ihre eigene unfehlbare Potency zu manifestieren, statt eine blinde Kraft von außen anzuwenden. Er wird es mit vielen Fragen zu tun haben und mit Fragestellungen, die sich in den Köpfen der Patienten entwickeln.
Zum Glück klärt sich vieles leicht durch die guten Resultate, die der Behandler in einer hohen Anzahl der Fälle erreicht, sowie dadurch, dass ihn seine Patienten aufgrund ihrer positiven Erfahrungen an andere weiterempfehlen. Dennoch sollte Skepsis bei einem Patienten beachtet werden und schafft bei dieser Art von Arbeit eine interessante Herausforderung.
Zusätzlich sollte der Behandler über ein objektives und ein subjektives Bewusstsein sowie über einen denkenden, sehenden fühlenden, wissenden Berührungssinn verfügen. Der folgende knappe Satz von Dr. Sutherland fasst all diese Qualifikationen zusammen: „Wenn Sie den Mechanismus verstehen, ist die Technik einfach.“ Und sie ist einfach. Dies war und ist die Wissenschaft der Osteopathie wie sie Dr. Still, Dr. Sutherland, und viele andere führende Kapazitäten in unserem Berufsstand formuliert und praktiziert haben. Heute geht es uns um die von Dr. Sutherland überlieferten Wahrheiten und deren Demonstration.
Jetzt müssen wir bedenken, was all dies für uns und für unsere praktische Arbeit jetzt und in der Zukunft bedeutet. Wir brauchen jede Dienstleistung die es heute innerhalb unseres hoch qualifizierten Berufsstands gibt. Wir benötigen unsere Krankenhäuser, unsere Chirurgen, Internisten, Pädiater, Gynäkologen, Psychiater und alle anderen Fachbereiche. Jeder Bereich der modernen Medizin ist für die Routinebetreuung unserer Patienten wichtig. Es gibt aber nicht nur für all diese Bereiche Raum, sondern auch für etwas Darüberhinausgehendes. Wir brauchen mindestens 2000 Frauen und Männer, die sich die Zeit nehmen, die notwendige Materie zu lernen, um die Wahrheiten von Still und Sutherland in ihrer täglichen Praxis nutzen zu können. Man hat mir gesagt, dass nicht jeder Behandler fähig ist, diese bestimmten Fähigkeiten zu erwerben, dass man dafür besonders begabt sein muss. Dieser Meinung bin ich nicht. Ich denke, der Behandler braucht Durchhaltevermögen, Zeit und muss viel Arbeit aufwenden, um diese Kunstfertigkeit und Wissenschaft zu erlernen. Wer gewillt ist, Zeit und Mühe in die Grundvoraussetzung ‚sei still und erkenne‘ zu investieren, die einen dem Schöpfer näher bringen kann als rein stoffliches Atmen, wird auf diesem Pfad unweigerlich ein Verfechter und praktischer Anwender der Prinzipien, die uns von Dr. A. T. Still und Dr. W. G. Sutherland vermittelt wurden. Offen gesagt möchte ich gerne sehen, wie 2000 Männer und Frauen diese Art der Osteopathie ausüben, denn solche Osteopathen werden vielen Tausenden Patienten zu Diensten sein, denen man anderswo gesagt hat: „Wir haben für Sie alles getan, was möglich ist. Sie werden lernen müssen, mit diesem Problem zu leben.“ Ein hoher Prozentsatz dieser zahlreichen Menschen kann aber zu einem sehr viel höheren Maß an Gesundheit geführt werden, als ihnen in ihrem jetzigen Zustand zur Verfügung steht. Solche Patienten, denen man helfen kann, liegen mir am Herzen. Damit sie weiterkommen, brauchen sie die Hilfe von Osteopathen mit Fähigkeiten in den besagten Bereichen. Zurzeit gibt es in Amerika aber lediglich eine Handvoll Osteopathen, die sich Worte und Werk von Dr. Sutherland – das ganzheitliche Konzept der Osteopathie also – zu Herzen genommen haben und versuchen, diese Art von Behandler zu werden.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt betonen, der bislang noch nicht erwähnt wurde: Der Osteopath, der diese Art von Praxis auf baut, wird gleichzeitig ein Forscher werden. Genauso wie Dr. Sutherland viele lange Jahre damit verbrachte, die Wahrheiten zu erfassen, die er sich durch Untersuchungen an sich selbst und durch Beobachten seiner Patienten erarbeitete, wird jeder Behandler Wege des Forschens und Studierens entdecken, die in der heutigen Fachliteratur nirgendwo zu finden sind. Die Autorität zum Lösen vieler Probleme wird sich in der komplexen Physiologie des Körpers eines jeden Patienten zeigen und in dem wachen Offensein des Behandlers für die Möglichkeit, aus diesen Problemen zu lernen. Das Werk und die Wegweiser, die Dr. Sutherland uns gab, sind lediglich der Anfang weitergehender Erkenntnisse, die das bestehende Wissen ergänzen und wiederum neue Wahrheiten hervorbringen werden. Diese gilt es dann zu testen und wieder zu testen, bis sie von uns allen genutzt werden können.
Ein junger Patient von mir, Studienanfänger an einem unserer Colleges, hat seiner Mutter erzählt, dass er nun plane, seinen DO zu machen, dann nach Dallas zurückzukehren, um dort unter meiner Anleitung weiter zu studieren, bis er in Besitz der Prinzipien sei und der Möglichkeit, sie in seiner eigenen Praxis umzusetzen – und dass er vorhabe, es noch besser zu machen als ich. Seine Mutter bemerkte, dass dies wohl etwas unbescheiden sei. Ich aber antwortete, dass er dazu sehr wohl in der Lage sein müsste, dass ihm meine Erfahrungen die Zeit verkürzen werden, die er zum Erlernen der Fähigkeiten benötigt, mit denen er die gleichen Resultate erzielt wie ich, und dass er sozusagen auf meinen Schultern stehend ein besserer Osteopath als ich werden sollte. Ich applaudiere seiner Einstellung. Und ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir alle auf Dr. Sutherlands Schultern stehen, indem wir erstens in seiner Arbeit so fähig werden, wie er es war, und indem wir zweitens dieses Können und Verstehen einsetzen, um sein Werk und das von Dr. A. T. Still voranzutreiben. Dies ist unsere Rolle als Forscher und Behandler in der Wissenschaft der Osteopathie. Es war Dr. Sutherlands Wunsch, dass dem so sei. Sind wir bereit, diese Herausforderung anzunehmen?
„In der S tille liegt das W issen.“ „Sie kommen zurück zur: U rsache.“ „Der Atem des Lebens ist das fundamentale Prinzip in der Wissenschaft der Osteopathie.“ Diese Gedanken hinterließ uns Dr. Sutherland in seinem Vermächtnis an die Wissenschaft der Osteopathie. Ich würde gerne abschließend einen Brief zitieren, den er mir vor vielen Jahren als Antwort auf ein Schreiben geschickt hat, in dem ich mich auf bestimmte Aspekte der Osteopathie im kranialen Bereich bezog. Seine Antwort schließt jedoch die gesamte Körperphysiologie in der Wissenschaft der Osteopathie ein. Ich zitiere ihn hier wörtlich:
„Mir näher als mein Atem ist der S chöpfer des Kranialen Mechanismus … Dem Patienten näher ist der S chöpfer seines oder ihres Kranialen Mechanismus … 7 Meine denkenden, fühlenden, sehenden, wissenden Finger werden auf Intelligente Art und Weise vom Meisterlichen M echaniker geführt, der diesen Mechanismus erschuf. Es ist nicht wichtig, wie man interpretiert, solange man mental Kontakt zur Oberleitung hat wie eine Straßenbahn.“
Lassen Sie mich das wiederholen: „Es ist nicht wichtig, wie man interpretiert, solange man mental Kontakt zur Oberleitung hat wie eine Straßenbahn.“
2. DEN MECHANISMUS VERSTEHEN
2.1. DER UNWILLKÜRLICHE MECHANISMUS
Überarbeitete Auszüge aus Vorlesungen, gehalten 1976 während eines Grundkurses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Milwaukee, Wisconsin.
Wir wollen über das Wesen des primären respiratorischen Mechanismus sprechen, der eine einfache, grundlegende, primäre rhythmische Funktionseinheit darstellt. Er ist ganz und gar unwillkürlich, umfasst die gesamte Anatomie und Physiologie und kann von einem ausgebildeten Behandler in jedem Körperbereich palpiert werden. Ebenso wie er das Indiz für Gesundheit innerhalb der gesamten Körperphysiologie liefert, weist er auch auf eine Verringerung der Gesundheit in jedem Dysfunktionsgebiet hin. Man kann ihn für Diagnose und Behandlung gleichermaßen als Werkzeug nutzen. Der Primäre Respiratorische Mechanismus ist eine Manifestation des Lebens im Patienten und der Behandler kann bei seinem Dienst, Gesundheit im Patienten wiederherzustellen, seine Hilfe in Anspruch nehmen.
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