Die antiken Philosophen begrenzten den Geist nicht auf das Gehirn. Mit der Morgendämmerung der modernen Psychologie wurde das Zentrum der bewussten mentalen, emotionalen und volitionalen Phänomene mit der Medulla oblongata verbunden, in jüngerer Zeit werden sie weithin im frontalen Bereich des Kortex lokalisiert, weil dies der einzige Teil des Gehirns ist, der für ihre Lokalisierung frei geblieben ist. Sogar dann, wenn wir alle Veränderungen, die in diesem Bereich stattfinden, verstehen könnten, wären wir unfähig, die Kluft zwischen dem rein Subjektiven und dem Objektiven zu überbrücken. Noch viel weniger wären wir dazu in der Lage, die mentalen Phänomene in ihre vorausgehenden Ursachen aufzulösen. Die Physiologie hat sich hauptsächlich in zwei Schulen geteilt: Die eine materialisiert die mentalen Phänomene, indem sie ihnen ausschließlich physiologische und physische Ursachen zuschreibt, und die andere idealisiert sie, indem sie ihnen bildliche Bezeichnungen verleiht, die in Wirklichkeit keine Erklärungen der Phänomene selbst sind. Durch die Kombination beider Anschauungen besitzen wir eine fundamentale, physische und physiologische Grundlage für die ideale Interpretation dieser Phänomene. Wenn wir den Bereich des Transzendentalen betreten und hinter allen diesen Phänomenen, seien sie nun physisch oder mental, die Existenz einer metaphysischen Essenz voraussetzen, wird die Erklärung klarer. Denn diese Phänomene des Geistes und des Körpers sind schlicht Offenbarungen dieser inneren, tieferen und wahreren Existenz. Die Schwierigkeit hierbei ist, dass eine derartige Essenz, welche die Metaphysik mit der Seele identifizieren würde, in keiner Weise durch die Wissenschaft bewiesen werden kann. Bestenfalls ist es eine metaphysische Konzeption.
Auch ohne den Versuch zu unternehmen, diese Frage zu lösen, bleibt es eine wichtige physiologische Frage, ob die Physiologie irgendeinen Grund dazu hat, das Bewusstsein und die gesamten psychischen Phänomene im frontalen Bereich des Gehirns zu lokalisieren. Sofern wir die Tatsachen der vergleichenden Physiologie zutreffend interpretieren, beruht diese Theorie nicht auf harten Fakten. Die Physiologen lokalisieren im Gehirn die Sinnesempfindung. Mit anderen Worten: Hier münden all jene Impulse, die in Bewusstsein resultieren. Doch die anderen Teile des Nervensystems, welche die Impulse zu diesem Sensorium übertragen, können ebenso viel mit dem Bewusstsein zu tun haben wie das Sensorium selbst. Bei den niederen Tieren, deren Gehirnentwicklung sehr einfach ist – sie besitzen keine jener charakteristischen kortikalen Gehirnwindungen, die mit den mentalen Phänomenen beim Menschen verbunden sind –, stellen wir Bewusstsein fest. Diese Sichtweise basiert auf der vollkommenen Einheit des Körpers und insbesondere des Nervensystems. Diese Vorstellung beleuchtet die Schwierigkeit der vollständigen Lokalisierung verschiedenster, von der modernen Physiologie hervorgebrachter Funktionen.
In den frühesten Stadien der Zellentwicklung bemerken wir bereits die Stimulationsfähigkeit der Zelle, sobald sie bestimmten molekularen Veränderungen ausgesetzt ist. Diese Veränderungen führen zum Aussenden von Impulsen an andere Zellen und ebenso entlang der Nervenbahnen zur Oberfläche des Körpers. Wenn die funktionell mehr oder weniger ausdifferenzierte Ausgangszelle aufgrund ihrer Fähigkeit, Impulse zu empfangen und zu übermitteln, durch kontinuierliche Stimulation vollständig spezialisiert ist, sodass ihre Veränderungen an diese besondere Art der Stimulation angepasst werden, um auf derartige äußere Stimuli besser zu reagieren, 32treffen wir auf die ersten Anfänge des Bewusstseins und ebenso des Gedächtnisses. Bewusstsein ist auch hier nicht das Ergebnis von Veränderungen, die in den Zellen stattfinden, denn nicht einmal das Wissen um alle inneren Veränderungen würde Bewusstsein entstehen lassen, weil Bewusstsein nur im Kontext auch äußerer Offenbarungen auftritt. Einige haben dies unter der Annahme erklärt, dass Materie und Bewusstsein verbunden seien. Doch dies kann nicht sein, weil wir kein verbindendes Glied zwischen der physischen Materie und dem psychischen Bewusstsein finden. Mithin stellen wir zwei anscheinende Gegensätze fest, von denen keiner die Ursache des anderen oder von ihm verursacht ist. Die Verbindung wurde von einigen vervollständigt, die eine Energie irgendeiner Art mit der Verursachung des Bewusstseins äquivalent gesetzt haben. Energie ist jedoch eine physikalische Eigenschaft, wodurch eine bestimmte Materie oder Materien, die Kraft zu agieren besitzen. Diese Aktivität hängt von aktiven Veränderungen ab, die in den konstituierenden Elementen stattfinden. Sofern diese Veränderungen, von denen wir annehmen, dass sie sich in den Zellen vollziehen, auf der Basis molekularer Aktivität die Grundlage von Bewusstsein bilden, dann muss Bewusstsein eine materielle und keine psychische Qualität besitzen, denn das Ergebnis kann nicht mehr enthalten als die Ursache enthält. Dies schließt aber auch eine Erklärung des Bewusstseins durch einfache Substanzveränderungen oder Materiebewegungen aus. 33
Bewusstsein ist daher unerklärbar, es sei denn, wir hypothesieren das Psychische, wie wir es auch mit dem Physiologischen tun. Beide bilden je in ihrer Sphäre die Grundlage ihrer eigenen Aktivität. Sofern wir das Nervensystem so betrachten, dass es aus einer Komplexität von Nervenmechanismen besteht, wobei jeder Mechanismus in seiner schlichten Form eine Aktivität mit einer Bewusstseinskomponente konstituiert, dann würde das gesamte Nervensystem aus der psychischen Perspektive eine komplexe Folge von bewussten Zuständen darstellen. Bewusstsein kann dann nicht nur bezogen auf das gesamte Gehirn existieren, sondern muss auch in allen Zellen vorhanden sein, die das komplexe Gehirn widerspiegeln. Sobald das Sensorium am Körper stimuliert wird, erfolgt eine Übertragung des Sinneseindrucks in das Zentrale Nervensystem und darauf hin eine reflektorische Bewegung. Dabei handelt es sich um eine nicht vom Gehirn ausgehende unwillkürliche Reflexreaktion. Und doch gibt es bei diesem Vorgang auch ein Bewusstsein der Veränderungen, die im Kontext der Rezeption und Distribution der Impulse stattfinden. Das Zentrum der Reflexreaktion außerhalb des Gehirns besitzt also eine enge Verbindung zu den Zellen in der grauen Substanz des Gehirns, sodass jeder sensorische Bereich des Körpers auch eine Verbindung mit einem Teil des Gehirns besitzt. Sinneseindrücke können ihrerseits reflektorische Reaktionen aus diesen zerebralen Zentren nach peripher und zu anderen Zentren bewirken, was zu unwillkürlichen Bewegungen führt; die Impulse können jedoch ebenso zu den volitionalen Kortexzentren verlaufen und willentliche Bewegungen auslösen. Jede willentliche Aktion ist daher im Wesentlichen ebenfalls eine Reflexreaktion, die von einer zeitgleichen bzw. vorausgegangenen afferenten Stimulation abhängt.
Sinneseindrücke, die auf die Zellen oder auf Kombinationen von Zellen einwirken, werden gespeichert. Auf diese Weise wird ein Gedächtnis als Grundlage für die Volition konstituiert; auf dieser Basis kann sie beim Auftreten von Impulsen agieren. Ergänzen wir dies mit der Tatsache, dass der Nervus opticus bei einer Bildprojektion auf der Retina die entsprechenden Impulse zu den für die Koordination zuständigen Corpora quadrigemina und weiter in den optischen Kortex überträgt. Dieses Bild erzeugt bei Einprägung in einer Zelle ein Erinnerungsbild, das ins Bewusstsein gerufen werden und eine Aktivität auslösen kann. Solche sensorischen Eindrücke können jedoch nicht nur das zerebrale Bewusstsein stimulieren, sondern ebenso die Koordinationszentren im Zerebellum. Es ist wahrscheinlich, dass sich sensorische Bereiche sowohl im Zerebrum als auch im Zerebellum befinden. Ist dem so, dann repräsentieren die Gehirnwindungen des Zerebrum und Zerebellum 34das willentliche Element bzw. den Sitz der regelmäßigen rhythmischen und unwillkürlichen Elemente aller Bewegungen. Werden durch die Aktivität eines Objekts oder von Objekten verschiedene Sinnesempfindungen als Stimuli auf verschiedene Teile der sensorischen Fläche hervorgerufen, beginnen molekulare Veränderungen in verschiedenen kortikalen Bereichen. Empfängt das Bewusstsein verschiedene Sinneseindrücke, können die eben genannten Bereiche über sie verbindende Assoziationsfasern so kombiniert werden, dass eine bestimmte Gewohnheit erzeugt wird. Diese kombinierten Impulse entsprechen dem mentalen Bild und können sodann Muskelbewegungen auslösen. Somit hängen die Bewegungen weithin von den stimulierenden Ursachen ab. Sind die Stimuli stark genug, verlaufen sie zu den Nervenzellen im Gehirn, wo sie aufgrund ihrer Stärke einen so lebendigen Eindruck auf die Zellen ausüben, dass der Eindruck auch dann noch fortdauert, wenn die Stimulation an sich aufgehört hat. Er kann infolge einer leichten äußeren oder inneren Stimulation wieder aufgerufen werden.
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