1 ...6 7 8 10 11 12 ...36 Dies ist die physiologische Erklärung für das assoziative Entstehen von Gewohnheiten, das einen ebenso bedeutenden Platz in der Psychologie einnimmt wie Gedächtnis und Erinnerung. Durch die beständige Wiederholung dieser Prozesse werden die Sinneseindrücke so eng mit dem Zellkörper verbunden, dass sie einen inhärenten Teil des Zelllebens bilden. Dieser kann von Generation zu Generation vererbt werden, was eine physiologische Erklärung für mentale Intuitionen erklärt. Sie repräsentieren folglich Modifikationen des Gehirns unter dem Einfluss der mentalen Entwicklung; jedes Gehirn stellt seine eigene Stufe des Fortschritts in der Evolution dar. Liegen zahlreiche und unterschiedliche Sinneseindrücke zugleich vor, stellen wir eine große Variation der Zellveränderungen und eine entsprechende Variation bei den mentalen Phänomenen fest. Sind diese Sinneseindrücke so im Gehirn fixiert, dass auch der Stimulus aus einem anderen Areal des Gehirns eine Reaktion bewirkt, besteht ein voll entwickelter mentaler Zustand. Auf diese Weise können die Bilder beispielsweise optisch oder palpatorisch erfasster Szenen in den Gehirnzellen gespeichert und durch einen mentalen Stimulus wieder abgerufen werden.
Manche Psychologen meinen, dass sie spontan erregt werden können. Dies entspricht jedoch wahrscheinlich nicht den Tatsachen. Was als spontane Erweckungen erscheinen könnte, hängt immer von einer schwachen und oft indirekten Stimulation ab. Das Sehen eines Objekts kann Sinneseindrücke ansprechen, die früher mit einem derartigen Objekt oder einem analogen verbunden waren. Oft reicht eine einfache Stimulation aus, um schlafende Sinneseindrücke zu wecken. So stellen wir fest, dass Phänomene, die zunächst als rein willentlich und willkürlich erscheinen, reflektorisch werden oder schließlich aufhören, mit der bewussten Volition verbunden zu werden. Beim Kind wird das Laufen beispielsweise erst durch beharrliche willentliche Anstrengungen möglich. Später werden diese Bewegungen ganz unbewusst ausgeführt. Auf die gleiche Weise können mentale Phänomene derart unbewusst werden, dass man manche Aktionen als instinktiv ausgeführt bezeichnet.
Es gilt allgemein als anerkannt, dass es unbewusste mentale Aktivitäten geben kann. 35Das Ergebnis dieser mentalen Aktion wird erst später bewusst. Die mentale Entwicklung impliziert den rezeptiven Zustand der Nervenzellen und ebenso die aktive Operation dieser Zellen bei den Veränderungen, die in der molekularen Entwicklung eingeschlossen sind. Diese werden etwa durch die Fähigkeit zur Selektion differierender Sinneseindrücke, durch Konzentration auf bestimmte Sinneseindrücke, durch die Aktivität der Zellen im Kontext der spezifischen Sinneseindrücke und durch die Kraft zur Assoziation dieser Sinneseindrücke reguliert.
Alle diese Elemente sind physiologisch über das Zentrale Nervensystem erklärbar und können durch Disziplin stabilisiert werden. Die Entwicklung des Gehirns hängt somit weitgehend von seiner richtigen Benutzung ab. Die Individuen unterscheiden sich in ihrer ursprünglichen Konstitution der Nervensysteme, was die verschiedenen Grade an Intelligenz und psychischen Initiativen impliziert. Diese beruhen jedoch primär auf einer vererbten Aneignung, die mit dem System von den Ahnen übermittelt wird.
Mithin ist jedem bei der Geburt nicht nur ein Körper, sondern auch ein Geist verliehen – die Grundlage des mentalen Charakters und der Entwicklung. Wenn der Mensch von diesem Anfangspunkt seiner mentalen Geschichte aus startet, wird seine weitere Entwicklung überwiegend durch Umwelt und Erziehung bestimmt. Auch die Willenskraft kann durch Übung verstärkt werden, wobei hemmende Einflüsse weitgehend auf Erziehung beruhen.
2. ABSCHLUSSREDE ZUR APRILKLASSE 1898
Journal of Osteopathy (V), 1898, S. 115–121.
Graduierte: Es ist mir eine große Ehre, Ihnen im Namen der gesamten Fakultät einige Worte der Gratulation zu diesem glücklichen Ereignis in Ihrer Berufslaufbahn zu sagen. Nachdem Sie zwei Jahre in dieser klassischen Institution verbracht haben, die weltweit als einzigartige Gründerschule der Osteopathie bekannt ist, erhalten sie nun die Autorisierung dieser Schule, die eine Imprimatur des Gemeinwesens und auch die Befugnis durch uns, Ihre Lehrer, umfasst. Sie bestätigt, dass Sie vollständig dazu qualifiziert sind, überall unter dem weiten Himmel die osteopathische Profession zu praktizieren. Wir hoffen, dass Sie sich nicht so fühlen, wie sich der arme Hawthorne fühlte, als er in klagenden Tönen diese Zeilen schrieb: „Ich kann nicht Arzt werden und von den Krankheiten der Menschen leben.“ Sie leben deshalb nicht von den Krankheiten, sondern von deren Erfassung zum Zweck der späteren Heilung.
Zur Neige des 19. Jahrhunderts ist es ein bedeutendes Vorrecht, in seinem Leben an den wissenschaftlichen Fortschritten und Bewegungen teilzuhaben, die versprechen, die Kultur mit ihrem größten Ruhm zu krönen. Wir leben in einem Zeitalter, in dem es sich zu leben lohnt. In dieser Dämmerzeit finden im Bereich der Medizin Veränderungen statt, die in anderen Zeitaltern unbekannt waren. Auch in anderen Bereichen macht die Künstlichkeit der Natürlichkeit Platz. Der Ballast, den man der Wissenschaft hinzugefügt hat, wird abgeladen. Und die Methoden der Beobachtung und des Experiments führen uns zurück zu den schlichteren und sicheren Methoden der Natur. Dies gilt wahrscheinlich mehr für die Medizin als für alle anderen Wissenschaften. Die ihrer Natur nach künstliche Symptomatologie weicht der Erörterung der tatsächlichen Ätiologie und Natur anomaler Zustände.
Es kann als gut bestätigte Maxime gelten, dass nichts außerhalb der angemessenen Zeit entsteht. 36Zur Krönung des Lebens, die im Horizont der Menschheit erschien, heißt es: Er erschien „[…] in der Fülle der Zeiten.“ 37Und es kann passend über jede große Wissenschaft im Fortschritt der Geschichte gesagt werden, dass sie in der Fülle der Zeiten entstanden ist. Unter allen großen Wohltaten der Menschheit nimmt keine eine derartig hohe Stellung ein wie die Wissenschaft und Kunst der Heilung. Ein antiker Wissenschaftler hat unsere Profession begeistert so gelobt:
„Der Mensch kommt den Göttern nirgends so nahe wie dann, wenn er den Mitmenschen Gesundheit verleiht.“ Worin auch die Ursache des Beginns von Krankheit, Leiden und Tod besteht und worin auch immer der Zweck ihrer Existenz liegen mag: Es ist eine gut bestätigte Tatsache, dass sie überall herrschen, wo es Menschen gibt. Leiden zu erleichtern und Krankheit zu bekämpfen, gehört zu jenen Bestrebungen des Menschen, die am höchsten geschätzt werden. Doch wenige haben die Ehre erlangt, Gründer und Pionier in dieser großen Bewegung zu werden. Zu diesen wenigen zählt Andrew Taylor Still, und die mit eisernem Stift auf die Berge der Zeit geschriebene Geschichte wird von seinem wundervollen Leben erzählen, von seinem über ein Vierteljahrhundert dauernden, geduldigen Arbeiten, durch das Sie und ich bereichert worden sind, indem wir von ihm die Prinzipien der Osteopathie empfangen haben. Gott hat der Menschheit die besten Gaben stets in der Form eines menschlichen Lebens geschenkt. Und stets hat Er ein menschliches Leben von überdurchschnittlichem Ernst, Beredsamkeit und Kraft zum Mittel und Maß seiner Gaben an die Menschheit gemacht. Keinem einzelnen Zeitalter ist alles Wissen offenbart worden, doch wie Zeit und Gelegenheit nach Wissen verlangten, kam es zum Menschen. Von keiner Profession als der Ihren lässt sich mit mehr Berechtigung sagen, dass Wissen das tatsächliche Fundament ihrer Existenz und ihres Fortschritts ist, die wesentliche und grundlegende Basis ihrer Fortdauer. Jene Menschen, die alleine standen, wurden zu Helden der Welt. Schon ein Fingerschnippen von Caesar beeindruckte den Römischen Senat. So hat Dr. Still, der Vater und Gründer der Osteopathie, nachdem er Jahre im Labor der Natur beim Studium der menschlichen Anatomie und Physiologie zugebracht hatte, seine Wissenschaft gegründet, diese jüngste und noch jungfräuliche Tochter der Wissenschaft, die als Vorbote von Gnade und Gesundheit für eine leidende und schwache Menschheit auf die Erde kam. Diese Wissenschaft wurde Ihnen vermittelt. Und Sie sind nun die Verwahrer dieses Wissens und die Praktizierenden dieser Wissenschaft. Die Osteopathie ist eine Kunst, denn „Wissen ist Macht“ , wie Bacon sagte. Und wo Wissen keine Macht ist, ist es nutzlos und sogar schlechter als nutzlos, denn es wird gefährlich. Geben Sie ihr Wissen weiter, denn Bildung generiert Macht.“
Читать дальше