Komsomolzev zog ein Taschentuch heraus und tupfte sich Blut von der Stirn. »Das wirst du nicht tun, sonst ...«
»Einen Scheiß werde ich nicht. Wir haben uns verstanden. Und jetzt verschwindet! Alle beide! Mischt euch nicht in meine Angelegenheiten!« Er starrte die beiden an, einer Mumie gleich, die kleine Kinderchen verschrecken wollte.
Smirnow rührte sich nicht. Doch plötzlich öffnete sich sein Mund: »Nicht, dass mein Freund Sorokin meinen Sohn ermordet hat? Immerhin hatte er Zugang zum Haus. Und eine Waffe hat er bestimmt auch.«
Komsomolzev und Lebedev spitzten die Ohren.
»Raus jetzt mit euch!«, forderte Artjom nochmals.
Zwei FSB-Leute räumten geräuschlos die Bühne. Die Zimmertür fiel ins Schloss.
»Pack deine Sachen! Ich bring dich hier raus. Willst du morgen trotzdem zu deinem Treffen?«
»Es wäre eine Kapitulation, wenn ich das Angebot nicht übergeben würde«, raunte Smirnow und ließ die Wodkaflasche fallen.
»Okay. Ich bring dich an einen sicheren Ort und morgen fahren wir zusammen nach Moskau City.« Artjom schaute Smirnow scharf an. »Komsomolzev scheint diesen Anatolij Sorokin zu kennen.«
»Tolik ist ein guter Freund. Er ist aus Russland geflüchtet. Vielleicht war Komsomolzev irgendwann hinter ihm her. Jedenfalls vertraue ich Tolik.«
*
Als Alexander Komsomolzev neben seinem jüngeren Kollegen im Wagen saß, raunte er: »Hast du gehört? Smirnows Freund ist Anatolij Sorokin, die Ameise. Ewig habe ich ihn gesucht! Sollte mich nicht wundern, wenn der hinter dem Mord steckt. Der hat sich Smirnows Vertrauen erschlichen, lebt in der gleichen Stadt in Deutschland und arbeitet dort für eine Polizeispezialeinheit.«
»Du kennst diesen Sorokin?«, fragte Michail Lebedev.
»Seit meinem zweiten Lebensjahr. Er wohnte nebenan, in Magnitogorsk.«
»Ein Fall für Interpol?«
»Wir haben keine Beweise«, erwiderte Komsomolzev.
»Brauchen wir die neuerdings?«
»Sorokin hasst mich ganz bestimmt. Er hat mit seiner Frau gegen Russland gearbeitet. Sie kam zufälligerweise ums Leben. Ich mochte sie nicht mehr, denn sie hat mich wegen Sorokin abgewiesen. Ausgerechnet mich hat er dann um Hilfe gebeten, weil er glaubte, seine Galina wäre ermordet worden, dieses Arschloch. Ich sollte ihn von seinem blinden Balg trennen und zugrunde richten, dann ist er aber nach Deutschland geflüchtet. Er kann mir nichts beweisen, wird aber ganz bestimmt viel ahnen. Jetzt kann ich es beenden. – Du hast recht. Wir brauchen keine Beweise. Vielleicht erledigt Sorokin diesen fetten Sergei Michailowitsch Smirnow und seinen Schutzengel für uns? Oder die erledigen Sorokin. Egal ...«
Michail Lebedev grinste. »Ich liebe es, wenn du deinem Hass freien Lauf lässt, Alex!«
Fedor saß regungslos am Tisch im Wohnzimmer. Er hatte belanglose Fragen von Lauras Mutter beantworten müssen, Tee getrunken und Kuchen gegessen. Laura saß dicht neben ihm, so dass er ihren Atem spürte, wenn sie Fedor beobachtete.
Der Junge hörte ein Geräusch an der Wohnungstür. »Dein Vater kommt«, sagte er und drehte sich zur Wohnzimmertür um, die etwas offen stand.
»Ich habe gar nichts gehört«, meinte Lauras Mutter.
Doch eine Sekunde darauf stand ihr Vater in der Tür und sagte übertrieben laut: »Hallo! Hier bin ich! Und, unser Besucher ist auch da?«
Fedor zitterte plötzlich am ganzen Körper. Er erhob sich unsicher und begrüßte Lauras Vater, »Guten Tag, Herr Sonberg«, der ihm die Hand fest drückte. Fast etwas zu fest.
»Und, alles in Ordnung, junger Mann? Ich wollte nur sagen, ich bin sehr erfreut, dass du Laura besuchst. Ist ja immerhin eine völlig fremde Umgebung für dich.«
»Funktioniert schon.« Fedor wandte sich Laura zu: »Gehen wir wieder in dein Zimmer?«
Laura war angesichts dieser Frage erleichtert. Sie zog ihn sofort mit sich. Fedor schloss die Tür des Kinderzimmers und setzte sich auf eine Liege neben das Mädchen.
»Ich habe einen Freund«, flüsterte Fedor. »Sein Name ist Igor. Er stammt aus Moskau und lebt schon ziemlich lange hier. Ich war oft bei ihm.«
»Und?«
»Er hat sich auf seinen Geburtstag gefreut. Nächste Woche wäre er zehn geworden.«
»Wäre?«
»Igor hat sich einen ganzen Tag mit seinem Papa gewünscht. Das war sein Geburtstagswunsch. Sie wollten in einen Vergnügungspark fahren. Und ich war eingeladen. – Igor wurde gestern erschossen. Ganz aus der Nähe. Und sein Kindermädchen Anja auch. Verstehst du? Gestern erst.«
»Gestern? Das tut mir leid, Fedor.« Laura ergriff die rechte Hand des Jungen. »Weiß die Polizei wenigstens, wer es war?«
»Nichts wissen die. Absolut nichts. Ich habe es dir nur gesagt, damit du weißt, warum es mir nicht ganz so gut geht.« Fedor holte tief Luft und schwieg zunächst. »Als was arbeitet eigentlich dein Vater?«, flüsterte er nach langem Schweigen und lauschte gleichzeitig, ob Lauras Vater nicht ins Zimmer kommen könnte.
»Er ist oft bei den Amis. Finanzgeschäfte, sagt er. Er fährt von einer Börse zur nächsten, ist in irgendwelchen Vorständen.«
»Auch in Vorständen von Bauunternehmen?«, flüsterte Fedor.
»Was du alles wissen willst! Keine Ahnung. Ist doch auch egal. – He, willst du mir einen Kuss geben?«
Erschrocken drehte sich Fedors Gesicht zu dem von Laura um. »Soll ich denn wollen müssen?«, fragte er schüchtern und spürte bereits die Lippen des Mädchens auf den seinen. Nur ganz kurz, für eine halbe Sekunde. Fedor holte trotzdem tief Luft. »Ich glaube, ich muss jetzt gehen«, flüsterte er und log: »Mein Vater hat heute noch viel vor.« Er griff in die Hosentasche und berührte einige Tasten seines Handys. Die Abhol-SMS war bereits abgeschickt. »Er wird gleich hier sein.« Sofort erhob sich Fedor.
»Magst du mich etwa nicht?«, fragte Laura, erstaunt über Fedors plötzlichen Ausbruchversuch.
Der Junge suchte verunsichert die Tür. »Doch, schon. Aber ... Ich bin noch nicht so weit.«
»Okay.« Laura ergriff die rechte Hand des Freundes. »Ist nicht so schlimm.«
»Vielleicht kannst du mich mal besuchen?« Fedors linke Hand berührte die Türklinke.
»Ich denke, eher nicht. Mein Vater lässt mich nicht allein raus. Seit ein paar Wochen geht das schon so. Er sperrt mich regelrecht ein.«
Einen Moment zögerte Fedor. »Warum tut er das?«
»Keine Ahnung. Er sagt, es wäre zu meinem Besten. Aber das sagt er ja ständig.«
»Schade«, flüsterte Fedor und ließ die Klinke wieder los. Mit beiden Händen tastete er vorsichtig Lauras Gesicht ab, die Wangen, die Nase, die Lippen und die Ohren. »Mein Papa hat wahrscheinlich recht.«
»Womit denn?«
»Dass du ein sehr schönes Mädchen bist. – Bringst du mich an die Tür?«
»Das hat er wirklich gesagt?« Laura streckte stolz die Hühnerbrust raus. »Klar doch, ich bring dich.«
Auf dem Flur wurden sie von Lauras Eltern empfangen.
»Musst du etwa schon gehen?«, fragte Lauras Vater.
Fedor atmete tief ein und aus. Er antwortete nicht.
Die Antwort übernahm Laura: »Fedors Vater kommt gleich, der hat heute noch was vor.«
»Okay.« Frank Sonberg hielt Fedor die rechte Hand hin. »Also dann, auf Wiedersehen und pass gut auf dich auf.«
Fedor griff zielsicher nach der Hand des Mannes und drückte sie fest, etwas zu fest. »Passiert schon nichts«, meinte er. »Auf Wiedersehen, Frau Sonberg. Vielen Dank für Tee und Kuchen.«
Während seiner vornehm anmutenden Verbeugung klingelte es an der Wohnungstür.
Sonberg berührte einen Sensor unter einem Bildschirm neben der Wohnungstür. Die Überwachungskamera schickte Bilder von der Haustür hoch. »Ah, sieh an. Dein Vater wartet bereits unten.«
Zuletzt gab Fedor Laura die Hand. »Tschüss«, flüsterte er nur.
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