Katie streichelte Fedors Kopf. »Fedor ist so ein Süßer.« Dann verließen beide das Kinderzimmer.
Kaum war die Tür zu, da erhob sich Fedor, ging zur Tür und lauschte. Die Geräusche waren ihm vertraut. Es klang meistens so, wenn Katie bei seinem Vater war und beide dachten, dass Fedor schlafen würde.
Der Junge drehte sich um, griff in die Dunkelheit und hielt sein Handy in der Hand, als er sich wieder auf das Bett warf. Einige wenige Griffe, dann stand die Verbindung zu Laura.
»He, bist du noch wach?«, flüsterte Fedor.
»Ja. Bin ich. Alles okay bei dir?« Laura flüsterte ebenfalls.
Mit dem Handy am Ohr kroch Fedor unter die Bettdecke. »Geht so. Dein Vater war gar nicht mit im Theater«, flüsterte er. »Obwohl der dich doch angeblich nie allein lässt.«
»Er hatte eine Besprechung. Er hat abends oft Besprechungen.«
»Wo? An der Börse? Die hat doch abends zu. Oder?«
»Keine Ahnung.«
»Sag mal, kanntest du Igor Smirnow auch?«
»Nein, der Name sagt mir absolut nichts.«
»Und Anja Weiß? Kennst du die?«
»Nein, sagt mir auch nichts. – Ist das ein Verhör? Fedor, du redest mit mir! Hallo, ich bin es, Laura!«
»Bitte nicht böse sein, Laura. Igor war doch mein Freund, verstehst du? Ich will nichts ungenutzt lassen. Vielleicht weiß ja irgendjemand etwas oder gibt einen kleinen, wichtigen Hinweis, dann ...«
»Okay, hör auf damit. – Willst du mich noch etwas fragen?«
»Dein Vater redet anders als die Leute hier.«
»Logisch. Er ist in Ravensburg aufgewachsen und kam erst nach der Wende hierher.«
»Ravensburg? Wo ist das? Ist es Schwäbisch, was er redet?«
»Schwäbisch. Genau. – Noch was?«
»Ja. Wie viele Handys hat dein Vater?«
»Er hat nur eins. Ein Nokia.«
»Er hatte nie ein anderes?«
»Woher soll ich das wissen? Selbst wenn, dann habe ich es nicht gesehen.«
»Hat er eine Pistole?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Okay.« Fedor dachte nach. »Tust du mir einen Gefallen, Laura?«
»Vielleicht«, flüsterte das Mädchen. »Aber nur vielleicht.«
»›Vielleicht‹ heißt weder ›Ja‹ noch ›Nein‹!« Fedor wartete.
»Okay. Ja!«
»Frag deinen Vater, warum er nicht mit im Theater war. Und dann sag mir, was er geantwortet hat. Meinem Papa hätten sie die Beine abhacken müssen, mindestens die Beine, damit er nicht gekommen wäre.«
»Von dieser Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet. Wahrscheinlich bedeute ich ihm nichts.«
»Vielleicht ja doch. – Laura?«
»Was?«
»Wenn mit mir so etwas passieren würde, ich meine so etwas, wie es mit Igor passiert ist, was würdest du dann tun?«
»Was soll die komische Frage?«
»Bin ich dein Freund?«
»Klar doch. Bist du.«
»Igor war auch mein Freund.«
»Wahrscheinlich würde ich kein Auge zumachen, bis ich wüsste, wer es getan hätte.«
»Und dann? Wenn du es wüsstest?«
»Fedor! Schluss jetzt damit! Sag mir was Schönes.«
»Was Schönes? Weißt du, was mein Papa nebenan mit Katie macht?«
»Wer ist Katie?«
Fedor kicherte. »Sie ist von der Kripo. Sie lieben sich. Und ich kann es ganz gut hören. Sie denken immer, dass ich schon schlafe.«
»Woher willst du wissen, dass sie ...«
Ganz leise wurde Fedors Stimme, fast so, als würde er Laura eine Einschlafgeschichte erzählen. »Weißt du, zuerst reden sie nur. Dann schleichen sie in mein Zimmer und ich tu, als würde ich schlafen. Dann flüstern sie und ich höre das Sofa. Dann küssen sie sich und feixen ständig. Irgendwann stöhnen sie. Dann ist früher oder später Ruhe. Und immer, wenn ich denke, dass sie eingeschlafen sind, stehen sie auf und gehen auf den Balkon Zigaretten rauchen. Dann kommen sie wieder in mein Zimmer und kontrollieren, ob ich noch schlafe. Und dann gehen sie selbst schlafen.«
»Du meinst, sie sind verliebt?«
»Klar doch. Sie küssen sich auch, wenn ich dabei bin. Sie denken, weil ich es nicht sehen kann, merke ich nichts davon.«
Laura lachte übertrieben auf. »Woher willst du wissen, dass sie’s tun?«
»Glaub mir, ich kriege das mit.«
»Wär’ doch schön, wenn du wieder eine Mutter bekommst. Oder?«
Fedor schwieg sehr lange. »Ich kann mich an meine Mama nicht erinnern. Papa schaut sich manchmal Bilder an. Es gibt nur ganz wenige. Er sagt, dass sie auf allen Bildern lacht. Es wird keine andere geben, die so lacht wie meine Mutter.«
»Ach Fedor ...« Jetzt klang Lauras Stimme wieder traurig. »Und wenn ich lache? Wie gefällt dir das.«
»Ich weiß nicht, Laura, wenn du lachst, klingt es wie Schaf und Ziege gleichzeitig. Ich werde dich Schatzi nennen. Halb Schaf, halb Ziege.« Jetzt lachte der Junge.
»Blödmann! Los, ich will jetzt schlafen. Viel Spaß noch mit dem Liebespaar.«
»Gute Nacht, Laura.«
»Gute Nacht, Fedor.« Ein Kussgeräusch war zu hören.
Fedor ließ absichtlich einen Zungenklick in das Handymikrofon los, lachte, legte das Handy unter das Kopfkissen und lauschte kichernd den Ereignissen im Nachbarzimmer.
Artjom biss erbarmungslos auf seine struppige Zahnbürste. Er stand mit freiem Oberkörper vor jenem Bett, in dem normalerweise er schlief, falls er eine Nacht in seiner Absteige nahe der Seslavinskaya Ulitsa – fast mittig zwischen den Metrostationen Bagrationowskaya und Filjowski Park der Filjowskaya-Linie Nummer 4 – im Moskauer Stadtteil Filjowski Park, nur 500 Meter vom großen Fili-Park entfernt, verbrachte. Hier war Artjom bereits unzählige Male in einer selbst auferlegten Trainingseinheit eine lange, steile Treppe, die zum Moskwa-Ufer führte, wie ein Besessener, von Ruhe suchenden Moskauern begafft, hinauf und hinunter gerannt, um – nach ausgiebigen Streckübungen am blauweißen Treppengeländer – inmitten der rasant wachsenden Metropole Moskau unter einhundertjährigen Laubbäumen im Wald entlang der mitunter steilen Ufer der Moskwa seine Ausdauerlaufrunden zu drehen. Dabei war er sich nie dessen bewusst, dass genau hier vor Jahren Peter der Große, Katharina die Große und etliche andere adlige Persönlichkeiten im gleichen Park ihrem Jagdvergnügen nachgegangen waren. Von seiner engen Wohnung im Dachgeschoss eines betagten Hauses bis zum Moskauer Internationalen Handelszentrum, der besagten »Moskwa City«, und dem dort befindlichen vierunddreißigstöckigen Bürogebäude Tower 2000 war es nur ein Katzensprung – für Moskauer Verhältnisse.
»Aufstehen, Sergei, los, du Faulpelz!« Artjom rüttelte Sergei Michailowitsch Smirnow, mit dem er bis weit nach Mitternacht etliche Sto-Gramm-Gläser geleert hatte, derb an der Schulter. »Los, Sergei, aufstehen! Wie geht’s dir?«
Smirnow antwortete mit einem Stöhnen auf die Floskel und griff sich an den Kopf. »Dämliche Frage. Großer Gott, was haben wir nur getrunken?«
»Russen heilen damit ihre seelischen Wunden. Wenigstens hast du schlafen können. – Geh in mein Bad, mach dich frisch und dann iss etwas.« Der Hüne spuckte in ein mit Wasser gefülltes Wodkaglas, nahm einen Schluck, gurgelte ziemlich lange, lief zur Spüle in der offenen Küche, spuckte hinein, leerte anschließend das Glas, trocknete erst den Mund und dann das Glas mit einem Lappen ab und stellte es in einen Hängeschrank.
»In einer Stunde müssen wir los. Ich bestelle ein Taxi, Parkplätze gibt es dort so oder so nicht.« Plötzlich stampfte Artjom auf Smirnow zu, der schwankend im Zimmer stand, umarmte und herzte ihn. »Es tut mir so leid, Sergei, ich weiß, wie sehr du deinen Igor liebst. Es tut mir so leid. Ich wollte, ich hätte es verhindern können.«
Als würde ihm erst jetzt die Tragweite der Tragödie bewusst werden, schaute Smirnow auf, direkt in die Augen von Artjom. Er hielt dessen Kopf zwischen seinen Händen, während Tränen aus Smirnows Augen schossen. »Diese Schweine sollen das gleiche Schicksal erleiden. Versprichst du mir das, Artjom? Versprich es mir! Du bist jetzt alles, was ich noch habe.«
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