Und Laura sagte: »Schick mir eine SMS.«
*
»Meinst du, ich könnte noch mal in das Haus?«
Stirnrunzelnd fragte Anatolij Sorokin: »Welches Haus meinst du?«
»Na, in das Haus von Igor.«
»In Onkel Sergeis Haus? Was willst du dort? Ich weiß nicht, ob du das könntest.«
»Es wäre wichtig für mich.«
Sorokin bremste den BMW ab. »Wichtig?« Er wusste, dass Fedor keine weiteren Auskünfte geben würde, ahnte aber auch, dass es für seinen Sohn tatsächlich bedeutungsvoll war, den Tatort erneut aufzusuchen.
»Okay, ich frage Herrn Rattner, ob du darfst. Wäre dir morgen recht?«
Fedor rutschte unruhig in seinem Sitz hin und her.
Tief durchatmend wählte Sorokin Rattners sichere Nummer. »Anatolij hier. Können wir uns noch mal in der Leutzscher Villa umsehen? Es ist wichtig.«
»Ich habe ihr Gesicht abgetastet«, flüsterte Fedor in diesem Moment.
Mit der rechten Hand fuhr Sorokin dem Sohn über den Kopf. »Immerhin ein Anfang. Und was hat sie gesagt?«
Kommissar Rattner meldete sich nach einer kurzen Pause wieder: »Okay. Katie ist dort. Sie wartet auf dich. Ist der Junge mit dabei?«
»Ja, er ist dabei«, sagte Sorokin. »Wir sind in acht Minuten da.«
»Nur das Gesicht. Sie hat sich nicht dagegen gewehrt. Erzählst du es niemandem weiter?«, flüsterte Fedor.
»Ich kann schweigen. Versprochen.«
»Laura hat mir vorher einen Kuss gegeben. – Meinst du, sie mag mich?«
»Laura?« Sorokin lachte auf. »Und wie sie dich mag!«
Fedors Gesicht färbte sich ein wenig rot. Er lächelte trotz der Scham.
»Warum willst du noch mal dahin, wo Igor getötet wurde?«, fragte der Vater plötzlich.
Fedor saß wieder ruhig. »Ein Gefühl. Mehr nicht.«
»Okay. Du vertraust mir aber, falls du mehr wissen solltest als ich?«
Jetzt nickte der Junge. Das tat er sehr selten. Meist sagte Fedor »Ja« oder »Nein«.
Sorokin nahm es zur Kenntnis, denn Fedors Nicken bedeutete nicht zwangsläufig ein »Ja«.
*
»Katie, was tust du hier so allein?« Die Begrüßung zwischen Sorokin und Rattners Kriminalassistentin Katie war überaus intim. Fedor bekam davon nichts mit.
»So richtig weiß ich das selbst nicht.« Katie hatte die beiden unten im Foyer der herrschaftlichen Villa empfangen. »Es lässt mir keine Ruhe. Ich habe ja schon viel erlebt, aber so ein kaltblütiger Mord, da gehört schon mächtig was dazu. Und was suchst du hier?«
Sorokin zeigte auf Fedor, der in tiefen Zügen ein- und ausatmete. »Er wollte hierher.«
»Darf ich nach oben?«, flüsterte Fedor und blickte in die korrekte Richtung die breite Treppe hinauf.
»Du darfst die Bereiche hinter den Absperrbändern nicht betreten, Fedor. Soll ich dich führen?«, fragte Katie und griff nach Fedors rechter Hand.
Der Junge schüttelte die Hand ab. »Bitte nicht.« Dann setzte er Stock und Klicksonar ein, bewegte sich auf die Treppe zu und ging gemächlich hinauf, ohne das massive Geländer zu berühren. Die Erwachsenen folgten ihm fast lautlos. Oben, auf der schmalen Empore, orientierte sich Fedor, ging zielstrebig auf das Büro von Sergei Michailowitsch Smirnow zu, öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Nur seine Nasenflügel bewegten sich.
»Habt ihr die Nachbarn befragt?«, flüsterte Sorokin.
»Selbstverständlich. Die nächsten Nachbarn wohnen dreihundert Meter entfernt. Keiner will was gesehen oder gehört haben. Die Ballistiker wissen aber jetzt, dass mit neun Millimetern geschossen wurde, wahrscheinlich eine Beretta 92 und vermutlich mit Schalldämpfer. Beide Opfer wurden aus dem Kinderzimmer in den Wohnraum geführt und vor dem Kamin hingerichtet. Zuerst das Mädchen, dann der Junge. Beide standen mit dem Rücken zum Mörder. Es war wahrscheinlich ein Einzeltäter, zwischen ein Meter siebzig und ein Meter neunzig groß, das konnte durch die Eintrittswinkel berechnet werden. Todeszeitpunkt war zwischen 20 und 21 Uhr. Der Anruf kam bereits um 21:11 Uhr von einem vor einer Woche geklauten und jetzt schweigenden Handy, um 21:27 Uhr waren die Kollegen vor Ort. – Darf ich dir das überhaupt alles erzählen?«
Sorokin nickte. »Natürlich darfst du.«
»Hat Onkel Sergei Zigarren geraucht?«, fragte Fedor plötzlich.
»Nein«, antwortete sein Vater. »Onkel Sergei hat nie geraucht. Er hasste das Rauchen.«
Der Junge verzog das Gesicht und verließ den Raum. Katie und Sorokin folgten Fedor, der wie in Trance durch den schmalen Flur schlich und schließlich vor einer massiven Zimmertür stehen blieb. »Darf ich?«, fragte er so leise, dass die Frage kaum zu hören war. Hier befand sich die Tür zu Igors Zimmer.
»Auch das darfst du.« Die Kriminalassistentin hielt sich zurück, während Fedor langsam, aber zielgerichtet das Kinderzimmer betrat. Erneut arbeiteten die Nasenflügel des Jungen. Vorsichtig berührten seine Finger die verschiedenen Fächer eines stabilen Regals, in dem vor allem Spielsachen und Bücher aufbewahrt wurden. Ganz plötzlich machte Fedor kehrt und lief zur Tür zurück. Tränen standen in seinen Augen. Wieder zitterte er. Zurück auf dem Flur flüsterte Fedor: »Wir können jetzt ganz schnell gehen.«
Sorokin schaute die Assistentin verdutzt an, und die wirkte ebenso erstaunt. »Nun sag schon ... hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragte Sorokin.
Ein einziges Kopfkratzen war Fedors Antwort. Er stieg bereits die Treppe zum Foyer hinunter.
»Danke für die allumfassende Antwort, Fedor!«
Fedor ging auf die Haustür zu. »Bitte, Papa.« Mehr sagte er nicht.
Katie zuckte mit den Schultern.
»Kommst du mit zu mir?«, flüsterte Sorokin, der einen Arm um Katies Schultern gelegt hatte. »Zweisamkeit ist gut gegen Einsamkeit.«
Sie zögerte die Antwort nicht heraus. »Okay. Ich fahre dir nach.« Sie gab Sorokin einen Wangenkuss. »Nur falls es dir keine Umstände macht, wenn ein Ameisenmädchen deinen Ameisenhügel durcheinanderbringt.«
»Halten wir bei Theo? Ich lade dich ein.« Theodorakis, ein urgemütliches griechisches Restaurant, das Fedor und seinen Vater bislang mehr und besser versorgt hatte als die heimische Küche. Zudem war der blinde Junge Liebling des Restaurantbesitzers, der übrigens nicht Theodorakis, sondern Alexander Peleos hieß.
*
Zuerst lauschte Fedor angespannt. Im Wohnzimmer, wo sich die beiden Erwachsenen aufhielten, war es verdächtig still.
Der Junge im blauen Pyjama ging durch das dunkle Zimmer zu seinem Personalcomputer, den er mit vielen Programmen aufgerüstet hatte, die ihm immens halfen. Er steckte sich die Ohrhörer in die Ohren, rückte des Mikrofon des Headsets passend vor die Lippen und fuhr den Rechner hoch.
Zunächst googelte er nach »Frank Sonberg«, fand mehrere Einträge, einen – wie er glaubte – wichtigen auf der Seite eines Börsenmaklers: »Sonberg, Frank – Börsenberater & Makler für die Civil Engineering Consulting Company«, las ihm die barmherzig klingende Frauenstimme im Kopfhörer vor.
»Suche: Civil Engineering Consulting Company!«, sagte Fedor, gerade laut genug, dass sein Spracherkennungsprogramm die Wörter identifizieren konnte.
Kurz darauf meldete sich die Frauenstimme wieder: »Die Civil Engineering Consulting Company ist dem Umsatz nach das zweitgrößte Baukonsortium der Vereinigten Staaten von Amerika mit 580 Großbaustellen weltweit (Stand Dezember 2011).« Unruhig rutschte Fedor auf seinem Sitz hin und her. Plötzlich schaltete er den Rechner aus, ohne ihn herunterzufahren, riss sich das Headset vom Kopf, ging rasch zum Bett, kroch unter die Decke, lag mit dem Gesicht zur Wand und hielt den Atem an. Im selben Moment öffnete sich sanft die Zimmertür.
Sorokin näherte sich dem Bett des Sohnes, zog die Decke zurecht, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Er schläft schon.«
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