„Was denn?“, fragte er leise und wagte kaum zu atmen.
„Das tut mir sehr leid, aber Ihr Herr Vater ist in der letzten Nacht verstorben. Mein aufrichtiges Beileid. Den Brief und den Umschlag soll ich Ihnen geben. Die sind von Ihrem Vater.“
Marius blieb es versagt, seinen Vater noch einmal zu sehen. Sie hatten den Leichnam bereits aus dem Krankenhaus gebracht. Die Schwester bot ihm einen Stuhl und Kaffee an, er lehnte ab. Marius wollte nach Hause.
Seine nächste Fahrt mit einem Taxi verlief zügiger. Sie endete in der Schwetzingerstadt. Marius zahlte, ließ sich den Koffer geben, bedankte sich und ging zum Gebäude mit der Nummer Fünfzehn. Trotz der Müdigkeit im Kopf und der Trauer im Herzen, ließ er seinen Blick über Haus und Hof schweifen und glaubte, alles so vorzufinden, wie er es in den fünf Jahren seiner Abwesenheit in Erinnerung behalten hatte.
Nach dieser langen Zeit tat sich Marius schwer, am Bund den passenden Schlüssel zu finden. Er hatte mit dem zweiten Glück und stieg schwerfällig nach oben in den dritten Stock. An dieser Tür wusste er sofort, welcher Schlüssel passte. Er machte sie mit zittrigen Händen auf, war froh niemandem im Treppenhaus begegnet zu sein und zog schnell die Tür hinter sich zu.
In der Wohnung herrschte eine unangenehme Kühle. Er öffnete die Fenster, sorgte für Durchzug, drehte an den Ventilen der Heizkörper und war erleichtert, als diese sich rasch erwärmten. Marius schaute in jedes Zimmer. In seinem schien die Zeit stehen geblieben zu sein, in den übrigen entdeckte er nur wenige Veränderungen. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder, die seine Mutter gemalt hatte, bis sie verstorben war. Marius schaute auf die Eingangstür. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie geöffnet wurde und seine Eltern die Wohnung betraten, um ihren Sohn willkommen zu heißen.
Marius wollte auf der Couch zur Ruhe kommen und die Augen schließen. Vor der Couch stand jedoch der Tisch, auf dem er den Brief seines Vaters gelegt hatte. Marius bereitete es Furcht, ihn zu lesen, und er starrte zur Decke. Schließlich überwand er sich, griff mit zittrigen Händen nach dem Brief und öffnete ihn.
Lieber Marius,
Du wirst überrascht sein, eine fremde Handschrift zu lesen, doch bin ich nunmehr zu schwach, um selbst schreiben zu können und bat einen Vertrauten, meine Worte zu Papier zu bringen. Du musst keine Furcht haben, lieber Sohn, diese Worte fallen nicht so harsch aus, wie jene im vorigen Brief, als ich erbost war, dass Du für lange Zeit nichts hast von Dir hören lassen. Es geht dem Ende zu, und ich möchte milde sein.
Bevor ich sterbe, komme ich nicht umhin, Dir für Deinen weiteren Lebensweg etwas ans Herz zu legen. Leider ist das Erbe, das ich Dir hinterlasse, zumindest in finanzieller Hinsicht überschaubar, was auch ohne jeden Zweifel darin begründet liegt, dass Du den Großteil meines Geldes ebenfalls in Australien gelassen hast. Das war keine gute Idee von Dir, mitten im Nirgendwo eine Kegelbahn zu betreiben. Dieses Missgeschick ging nicht nur über Deine Kräfte. Deine Mutter hätte das womöglich mit ihrem Weitblick, der mir verlustig ging, verhindern können. Aber zu ändern ist das nicht mehr. Jetzt musst Du neue Wege gehen. Damit Du auf die Beine kommst, möchte ich Dir eine Arbeit anbieten. Sie wird Dir nicht zur Gänze fremd sein, denn es ist jene, die ich bisher selbst verrichtet habe. Bitte höre auf den Rat Deines alten Vaters, und nimm die Arbeit bei Herrn Weigelt an. Sie ist nicht immer einfach, aber anständig bezahlt. Du sollst Dich bei Herrn Weigelt um den Garten kümmern und seinem Enkelsohn ein guter Freund sein. Das ist alles. Ich habe bei ihm ein gutes Wort für Dich eingelegt. Herr Weigelt erwartet Dich baldmöglichst zu einem Gespräch. Gehe hin sobald Du kannst.
Falls Du in Deiner freien Zeit eine sinnvolle Beschäftigung suchst, so habe ich eine Anregung für Dich. In dem braunen Umschlag findest Du ein Schriftstück, das Dein Großvater geschrieben hat. Du hast ihn nie kennenlernen dürfen, weil er lange vor Deiner Geburt im Gefangenenlager in Russland verstorben ist. Auch ich habe lediglich einige verschwommene Erinnerungen an ihn. Als er in den Krieg ziehen musste, war ich ein kleiner Junge. Das meiste habe ich gelesen, dann schwanden meine Kräfte, und die Augen wollten auch nicht mehr so wie früher. Aber keine Bange, die Schrift Deines Großvaters liest sich mühelos. Nur das Geschriebene war nicht immer leicht zu verkraften. Dieser Bericht sollte wohl eine Art Beichte für das sein, was er damals im Krieg erlebt hat. Ich war über manche Einzelheiten selbst erschrocken, aber auch erleichtert, dass mein Vater kein Mörder war. Erst als ich sterbenskrank im Bett lag, begann ich seinen Bericht zu lesen. Mache Dir selbst ein Bild, wenn Du die nötige Muße hierfür gewonnen hast, aber warte nicht so lange damit, wie ich es tat.
Jetzt muss ich schließen, mein Sohn. Ich kann nicht mehr. Ich hoffe, Dir ein guter Vater gewesen zu sein, so wie Deine Mutter eine gute Mutter gewesen ist. Lebe wohl!
Dein Dich liebender Vater
Die Hände von Marius begannen zu zittern, Tränen rannen über seine Wangen, und er rang um Fassung. Als die Schwester ihm im Krankenhaus die Todesnachricht übermittelt hatte, waren seine Augen trocken geblieben. Zu keiner Gefühlsregung war er fähig gewesen, jetzt war Marius dankbar, dass sein Vater in diesem Schreiben versöhnliche Worte gefunden hatte. Er küsste den Brief, legte ihn behutsam auf den Tisch und seufzte so tief und heftig, wie nie in seinem jungen Leben zuvor.
Sein Vater sollte Recht behalten. Marius blieb seiner finanziellen Lage wegen keine andere Wahl, als sich am nächsten Tag auf den Weg zu Herrn Weigelt zu machen. Er wusste, in welcher Straße dieser sein Anwesen hatte, die Gegend war als Wohnsitz vermögender Familien bekannt. Mit dem Fahrrad brauchte Marius keine zehn Minuten, und das musste er nehmen, da ihm kein Auto zur Verfügung stand.
Sein Fahrrad stand im Keller. Marius pumpte die Reifen auf und trug das Rad die Treppe hoch. Im Hof begann er zu frieren. Er erinnerte sich, dass es in Deutschland auch im frühen Frühjahr empfindlich kühl sein konnte, nahm aus dem Schrank seines Vaters den dicksten Mantel, der zu finden war und schwang sich aufs Rad.
Sein Weg führte ihn auf die Seckenheimer Straße über die Otto-Beck-Straße die Augustaanlage querend zum Haus der Weigelts. Bereits etwa einhundert Meter vor dem Grundstück stellte Marius sein Fahrrad ab, band es an einen Zaun und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Herr Weigelt war einer der angesehensten und reichsten Männer der Stadt. Marius wollte vermeiden, ihm mit einem schmutzigen Fahrrad zu begegnen.
Das Anwesen hütete sich mit einer mannshohen Hecke vor neugierigen Blicken. Marius hatte Mühe, darüber hinweg zuschauen. Er machte sich so lang, wie ihm möglich war und lugte über die Hecke, bis ein Mann mit seinem Hund daher kam, der zu knurren begann. Der Mann fragte scharf nach, was Marius hier zu suchen hatte. „Ich möchte hier arbeiten“, gab Marius schüchtern zur Antwort.
„Und zuvor wollten Sie nachsehen, wie Ihr künftiger Arbeitsplatz aussieht, was? Hier wohnt Herr Weigelt, ein honoriger älterer Herr, der in dieser Stadt eine hohe Wertschätzung genießt. Sie können von Glück reden, falls er Sie einstellen sollte.“ Der Mann schaute Marius geringschätzig von Kopf bis zu den Zehenspitzen an und bemerkte den altmodischen Mantel samt der billigen Schuhe. „Wenn er überhaupt daran denkt, Sie einzustellen“, fügte er herablassend hinzu, zog seinen fortwährend knurrenden Hund von Marius weg und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Straße hinab.
Der Zugang zum Haus war durch ein hohes schmiedeeisernes Tor verwehrt. Etwas unterhalb der Spitzen waren Drachen und andere Fabelwesen angebracht worden, die wohl dazu dienen sollten, den Besuchern dieses Anwesens, den nötigen Respekt einzuflößen.
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