„Das ehrt Sie, Karl“, sagte Herr Weigelt, ohne eine Spur von Spott in seine Stimme zu legen.
„Und Sie wollen weiterhin an Ihren Absichten festhalten?“
„Bei allem Respekt, aber diese Entscheidung überlassen Sie bitte mir.“
„Sie kennen ihn nicht“, blieb der Diener beharrlich. „Über welche Fähigkeiten verfügt dieser Sohn Herrn Kilians überhaupt? Das sollte nicht weiter verwunderlich sein, dass ein Vater seinem Sprössling eine Empfehlung ausspricht, wenn er damit seinen eigenen Interessen dienen kann.“
Herr Weigelt verzog das Gesicht. „Ihnen sollte hinlänglich bekannt sein, dass ich mich für das Wohlergehen der Familie Kilian in besonderem Maß verpflichtet fühle. Der Wunsch von Konrad Kilian ist für mich bindend. Was haben wir denn über dieses Thema weiterhin zu reden?“
Herr Weigelt biss in seinen Apfelkuchen und wünschte sich Ruhe. Sein Diener gönnte sie ihm, solange er aß und trank. Als Herr Weigelt damit fertig war, versuchte Karl ihn erneut von seinem Vorhaben abzubringen. „Herr Weigelt, niemand kann Sie dazu zwingen, diesen Sohn in Ihre Dienste zu nehmen. Sie kommen bereits für die Kosten der Beerdigung Herrn Kilians auf. Dafür müsste sich sein Sohn verantwortlich sehen und mitnichten Sie selbst.“
„Fangen Sie schon wieder an“, schüttelte Herr Weigelt den Kopf. „Lassen Sie es endlich gut sein. Auf dem Teller fehlt die Serviette. Das hätte Ihnen auffallen müssen.“
Karl holte umgehend sein Versäumnis nach. „Ihnen scheint die Krankenhausluft nicht gut zu bekommen“, lächelte Herr Weigelt grimmig. „In meinem Haus wäre Ihnen dieses Versäumnis niemals unterlaufen.“
„Da mögen Sie Recht haben, Herr Weigelt. Ich halte es jedoch für meine Pflicht, Sie auf einen möglicherweise fatalen Fehler aufmerksam zu machen, dessen Auswirkungen meinen kleinen Fauxpas bei weitem übertreffen würde. Sie wissen doch worauf ich anspiele?“, konnte sich der Diener schwerlich beherrschen.
Herr Weigelt zog die Schultern hoch. „Was soll denn passieren? Dieser junge Mann, der die letzten Jahre keinen Fuß in seine Heimat setzen wollte, hat keinen Schimmer, was sich lange vor seiner Zeit ereignet hat. Nichts weiß er, und dabei wird es auch bleiben. Aber jetzt fahren Sie mich in mein Haus. Der Tag war anstrengend genug.“
Der Bus fuhr zweimal am Tag von Coldsville nach Sydney. Einer am frühen Morgen, der nächste, wenn die Sonne längst untergegangen war. Die Morgenluft war angenehm kühl. Marius stand an der Haltestelle, die sich lediglich einige Meter von seiner Wohnung entfernt befand und wartete. Die Augen hielt er dabei auf seine Schuhe gesenkt. Das Haus, in dem er gelebt hatte, wollte er nicht mehr sehen. Kamen Leute vorbei, unterließ es Marius, zu ihnen aufzuschauen. Er ärgerte sich, dass er nicht bereits am Abend zuvor nach Sydney gefahren war, wobei es für den gestrigen Flug sowieso zu spät gewesen wäre.
Plötzlich zuckte Marius zusammen. Sally kam auf ihn zu. Zu seiner Verwunderung sagte sie kein Wort. Marius ebenso wenig, doch kamen ihm schlagartig die schönen Zeiten ihrer Beziehung zu Bewusstsein, so dass ihm vor Wehmut schwindlig zu werden drohte. Sally wusste sofort, wie es um ihn stand. Sie zog die Augenbrauen nach oben, legte ihren Kopf langsam auf die Seite und lächelte ihn schelmisch an. Dann richtete sie einen ganz herzlichen Gruß ihres Vaters aus, drückte ihm eine Dose mit selbstgebackenen Keksen in die Hände und einen Kuss auf die Lippen. Sally verlor kein weiteres Wort und ging ihrer Wege, ohne sich noch einmal umzudrehen. Marius sah ihr nach, bis sie an einer Biegung der Straße verschwunden war.
Zu seiner Erleichterung kam der Bus pünktlich. Marius nahm abseits der anderen Fahrgäste Platz und mied jeden Blick nach draußen. Vier Stunden Fahrt nach Sydney lagen vor ihm. In der letzten Nacht hatte er keine Ruhe gefunden. Nachdem der Fahrer die ersten zwanzig Kilometer über eine holprige Piste bis zur Schnellstraße nach Sydney überwunden hatte, schloss er die Augen und fand den ersehnten Schlaf.
Kurz vor dem Flughafen wachte Marius auf. Er hatte geträumt, jedoch nicht von seinem Vater. Seine bereits verstorbene Mutter war ihm im Traum begegnet. Er hatte sie lediglich von hinten gesehen. Sie saß auf einem Stuhl und war dabei, ein Bild zu malen. Marius hatte sich getraut, über ihre Schultern zu blicken. Sein Mut sollte ihm Bitterkeit bereiten, denn seine Mutter malte an einem Bild, welches einen Friedhof zeigte.
Am Flughafen fühlte sich Marius wie benommen. Nach der Passkontrolle hätte er nicht mehr gewusst, ob ein Mann oder eine Frau seine Papiere prüfte, und am Gepäckband musste er dazu aufgefordert werden, seinen Koffer aufzugeben. Kurz darauf saßen die Passagiere dicht gedrängt im Flieger. Marius versuchte, von ihnen keine Notiz zu nehmen.
Während der vielen Stunden über dem Indischen Ozean und dem Asiatischen Festland hatte Marius immer wieder auf die Uhr gesehen, bis er den Anblick kaum mehr ertragen konnte und er sie vom Handgelenk zog. Marius tat etwas, was er lange nicht mehr gemacht hatte. Er fing an zu beten, dass er seinem Vater lebend begegnete. Er flüsterte immer dieselben Worte vor sich hin, bis seine Nachbarin auf ihn aufmerksam wurde und fragte, ob sie ihm helfen könne.
Die Zeit wollte für die Passagiere während des Zwischenstopps in Singapur nicht vergehen. Für Marius verstrich sie viel zu schnell, da er befürchtete, zu spät zu kommen. Die Leute, die mit ihm flogen, nervten ihn. Sie schnarchten, wenn sie schliefen, begannen aufgeregt zu schnattern, als im Flugzeug die Sonne aufging und mäkelten, weil das Essen nicht schnell genug kam. Marius fand keine Ruhe und zählte Minute um Minute.
Endlich hatten sie Frankfurt erreicht. Ein böiger Wind empfing die Passagiere auf dem Rollfeld, die Leute knöpften ihre Jacken bis oben hin zu. Marius war für den Vorfrühling in Deutschland viel zu leicht angezogen, und er begann heftig zu frieren.
Im ICE nach Mannheim stand Marius, da er nach dem Flug nicht mehr sitzen konnte. Während das Flugzeug auf die Minute pünktlich gelandet war, hatte der Zug Verspätung. Marius trat von einem Bein auf das andere und verwünschte die Bahn, dabei war die frei von Schuld für den Brand einer Fabrik, die sich in unmittelbarer Nähe der Gleise befand.
Der ICE traf mit einer halbstündigen Verspätung in Mannheim ein. Marius sprang aus dem Zug und hetzte zu einem Taxi. Den Fahrer bat er inständig, sich zu beeilen, doch gerieten sie in starken Verkehr, kaum dass der Wagen den Bahnhof verlassen hatte. Der Fahrer spürte die Ungeduld von Marius und gab sich Mühe, ihn abzulenken. Als er erfuhr, dass sein Fahrgast aus Australien eingeflogen war, drehte er die Heizung auf. Der Fahrer fragte Marius, was er sonst für ihn tun könne. „Schneller fahren“, herrschte Marius ihn an, aber der freundliche Mann verwies auf die Kolonne der Fahrzeuge, die sich quälend langsam durch die Straße schob.
Es begann zu dunkel zu werden, als sie endlich das Klinikum am Neckarufer erreicht hatten. Marius ließ einen Geldschein auf den Sitz fallen und riss den Koffer an sich. An der Information fragte er sich verhaspelnd nach dem Namen Kilian.
„Welche Abteilung?“
„Onkologie!“
„Herr Kilian liegt im Zimmer 432, im vierten Stock. Sie müssen durch den Gang bis ans Ende gehen, dann links, danach rechts den Gang entlang und wieder bis zum Ende. Dort ist ein Fahrstuhl. Wenn Sie oben sind, dann nochmals scharf links, und Sie sind da.“
Marius fegte mit dem Koffer durch die Gänge. Einmal nahm er die falsche Richtung, ein Mann, der an Krücken ging, wies ihm den richtigen Weg. Den Fahrstuhl ließ er unbeachtet und sprang stattdessen mit dem Koffer an der Hand die Treppen nach oben. Als Marius die „Onkologie“ erreicht hatte, war ihm die Zimmernummer entfallen. Er fragte aufgeregt eine der Krankenschwestern um Rat. Die Schwester hatte eben mit ihrer Schicht begonnen. Viel zu langsam suchte sie auf dem Bildschirm nach. „Ach, da hab’ ich’s. Nummer 432.“ Marius eilte davon. Die Schwester fuhr plötzlich mit der Hand zum Mund und erschrak. „Herr Kilian, bitte warten Sie!“, rief sie ihm hinterher. Sie bemerkte auf ihrem Schreibtisch den Brief und einen großen braunen Umschlag, die für Marius gedacht waren und nahm sie an sich. Marius hatte die Hand an der Türklinke. Die Schwester kam auf ihn zugelaufen. „Herr Kilian, ich muss Ihnen etwas sagen.“
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