Draußen vor der Tür hielt es Boris kaum aus. Wie lange dauerte das denn? Für Boris viel zu lange. Endlich, er hätte nicht länger abwarten können, öffnete sich die Tür. „Sie können jetzt hinein.“ Die Schwester nahm Boris von oben bis unten in Augenschein. „Hätten Sie nicht die Kleidung wechseln können?“
„Das ging nicht, ich war furchtbar in Eile. Ich schäme mich auch ganz arg.“
Boris eilte zum Bett. Er bremste rechtzeitig ab, überzeugte sich davon, dass die Schwester das Zimmer verlassen hatte und hielt Konrad eintausend Euro vor die Nase. „Wie hab’ ich das gemacht?“
„Prima“, hauchte Konrad und versuchte zu lächeln. Dann sprach er so leise, dass Boris sein Ohr an seinen Mund halten musste. „Mach’ ich sofort“, sagte Boris und lief zur Krankenschwester.
Die Schwester wusste, welcher Familie Boris angehörte. Daher nahm sie sich die Zeit und den Bogen Papier, der auf dem Nachttisch lag und griff zum Stift. Sie wunderte sich nicht, dass sie den Brief zu Ende schreiben sollte. Konrad Kilian fehlte hierzu die Kraft, und ihr war ebenso bekannt, dass Boris volljährig war, aber nur ungenügend lesen und schreiben konnte. Sie setzte sich auf einen Stuhl, den sie nahe ans Bett rückte, lieh dem sterbenskranken Mann Ohr und Hand und schrieb den Brief zu Ende.
Als sie damit fertig war, fragte die Schwester, ob sie den Brief für seine lange Reise aufgeben sollte. Boris schüttelte heftig den Kopf und verkündete laut, dass er dies übernehmen wollte. Kaum war die Schwester aus dem Zimmer, legte Boris die beiden Fünfhundert-Euroscheine in einen kleinen blauen Umschlag, schob ihn in den größeren und verschloss den Brief. Konrad sagte, dass es kurz vor drei Uhr sei. Boris verstand nicht sofort, er musste nachdenken. Plötzlich fiel ihm ein, dass der nächste Briefkasten womöglich um diese Zeit geleert werden könnte und zögerte keinen Augenblick mehr. „Ich komme wieder so schnell ich kann“, sagte er im Laufen und hoffte von ganzem Herzen, dass er Konrad lebend wiedersehen würde.
Ein halbes Jahr bevor Konrad Kilian seinen Brief nach Australien auf den Weg bringen ließ, saßen zwei junge Menschen auf einer Bank in Coldsville nahe Sydney und hatten sich nicht mehr viel zu sagen. Zwei Sätze nur fielen Sally Morgan ein: „Jede Dummheit findet einen Menschen, der sie macht. Und bei dir hat sie augenscheinlich besonders leichtes Spiel gehabt“, hatte sie Marius Kilian ins Gesicht gesagt und ihm dabei mit dem Finger auf die Stirn getippt.
Marius war nichts Besseres eingefallen, als lachend auf die kleine Sally herabzuschauen und ihr wie bei einem jungen Mädchen sanft über den hellen Kopf zu streichen. Damals hatten sie vor dem Haus von Sallys Vater auf der mit rohem Holz gezimmerten Bank eng beieinander gesessen, bis sie nach und nach von Marius abgerückt war.
Sie tranken Cola mit Zitronensaft. Vielleicht hatte Sally darauf gehofft, mit dem Koffein den Geist ihres Freundes anzuregen, doch entfaltete dieses eine Wirkung, die ihr nicht recht sein konnte. Marius blieb felsenfest davon überzeugt, dass seine Unternehmung von Erfolg gekrönt sein würde. Stur wie ein Esel war er geblieben. Marius hatte, als er Sallys Ellenbogen spürte, die Hand von ihrem Schopf genommen, die Arme vor der Brust verschränkt und nach vorne in eine rosige Zukunft geblickt, wie er zu wissen glaubte. Was er sich in den Kopf geträumt hatte, musste er mit aller Macht in die Tat umsetzen. Vor allem wollte er tunlichst vermeiden, bei Sallys Vater im Schuhsalon zu arbeiten. Das hätte ihm gefehlt, dass er sich vom Vater seiner Freundin kommandieren ließe, wenn er von seinem eigenen seit Jahren keinen Rat mehr anzunehmen bereit war.
Als Sally sich eingestehen musste, dass alle Worte umsonst gesprochen waren, hatte sie mit den Schultern gezuckt, Marius das Glas aus der Hand genommen und war ohne jeden Gruß im Haus verschwunden.
Marius hatte sich noch eine Weile die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Nichts schien ihn erschüttern zu können. „Ach Sally, wenn du wüsstest, welchen Unsinn du manchmal daher plapperst. Warum in aller Welt soll’s denn nicht klappen? Wenn jeder eine Pessimistin wäre wie du, wäre die Menschheit niemals da angekommen, wo sie heute ist.“ Genau das hatte Marius ihr sagen wollen, aber da war sie schon weg.
Kaum war das halbe Jahr vergangen, schlich Marius mit hängenden Schultern an den Bahnen seiner Bowling-Halle entlang und schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie war er nur auf den Gedanken verfallen, dass in einem Ort mit eintausend Einwohnern eine Halle mit sechs Bahnen hätte halbwegs rentabel laufen können? Jetzt lief überhaupt nichts mehr, kein Laut war zu hören, und eine Totenstille lastete auf ihm.
Marius glaubte, diese Stille nicht länger ertragen zu können. Früher, als die Bahnen ab und an zur Hälfte ausgelastet waren, hatte der Lärm der johlenden Menschen, der fallenden Kegel und der aus den Boxen dröhnenden Musik seine Nerven belastet. Jetzt sehnte sich Marius nach diesem Lärm zurück.
Um der Stille zu entgehen, griff er nach einer der Bowlingkugeln. Marius warf seine letzte Kugel. Sie kam mit Schwung und hätte die Bahn abräumen können, geriet jedoch zu sehr nach links und brachte nur zwei Kegel zum Fallen. Gleich darauf rollte die schwarze Kugel auf dem Band zurück und stieß gegen die übrigen. Dann war wieder Ruhe. Für einen Augenblick stand Marius regungslos da. Schließlich nahm er nach und nach die Kugeln auf, legte sie in Kartons, trug sie zu den anderen und ging an die Bar.
Weil kein Bier mehr da war, trank Marius hastig ein Glas Wasser. Er wollte mehr davon trinken, als es an der Tür klopfte. Marius schlurfte zum Eingang und öffnete. Der Mann, der vor der Tür stand, war so dick, dass er mit Müh und Not hindurch passte. Marius sprach einen knappen Gruß aus und bot ihm einen Platz an der Bar an.
„Wenn der Hocker mich aushält, gern“, grinste der Mann und zog den Stuhl ein gutes Stück von der Bar zurück. „Sonst quetsche ich meinen Bauch zu sehr ein. Machen wir’s kurz?“, fragte er. „Ist wohl besser so“, antwortete Marius. Er nahm das Blatt Papier, welches ihm der Dicke gab, überflog es und setzte seinen Namen darunter. Der Mann wollte wissen, ob etwas zu trinken da wäre. Marius schüttelte müde den Kopf. „Macht nichts“, bekam er vom Dicken zu hören, denn der hatte was Gutes dabei. Er zog eine Flasche Scotch aus einer ledernen Tasche, verlangte nach Gläsern und schenkte großzügig ein. „Auf eine gute Zukunft – natürlich für uns beide.“ Marius brummte „Wollen wir’s hoffen“ und leerte das Glas in einem Zug.
„Donnerwetter, Sie scheinen’s nötig zu haben“, lachte der Dicke. „Kopf hoch, das wird schon wieder. Bis zum heutigen Tag ist kein Meister vom Himmel gefallen. Sie sind jung, da wird es für manche weitere Pleite reichen“, konnte sich der Mann vor Lachen kaum beruhigen und schenkte nach, wobei ihm die Hand zitterte und die Hälfte daneben ging. „Oh, Entschuldigung. Aber ich habe ja sowieso vor, hier reinen Tisch zu machen. Da stören die paar Tropfen nicht.“ Der Dicke schaute sich um und entdeckte die Kartons. „Sind da die Kugeln drin?“
Marius trank vom Scotch und nickte. „Die liegen sehr gut auf der Bahn. Ich habe mit denen ganz schön oft alles abgeräumt“, schwindelte er.
„Das will ich Ihnen gerne glauben. Sie waren hier an den meisten Tagen mutterseelenallein, dass Sie genug Zeit zum Üben hatten“, sagte der Dicke trocken und zündete sich eine Zigarette an.
„Zu welchem Zweck wollen Sie die Kugeln eigentlich verwenden?“, versuchte Marius ihn abzulenken.
„Ich schenke sie meinem Bruder. Der hat in Sydney eine Bowlingbahn. Die läuft vorzüglich, so dass er eine zweite aufmachen will. Allerdings ist mein Bruder ein ausgemachter Geizhals. Am liebsten würde er seinen Gästen pro Bahn genau eine Kugel geben. Jetzt bekommt er Ihre dazu, ohne dass er dafür auch nur einen Cent bezahlen muss. Sonst heult er mir bei unserem nächsten Treffen die Ohren voll“, lachte der Dicke lauter als zuvor und schnippte Asche auf den Boden. Danach warf er einen langen Blick durch die Halle.
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