„Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass Sie hier annähernd so viele Bahnen haben, wie Coldsville Einwohner hat?“
„So ungefähr hat mir das schon einmal jemand ins Ohr geflüstert“, seufzte Marius und dachte an Sally.
„Das fiel mir eben erst auf, dass das schwierig werden könnte“, grinste der Dicke und zwinkerte mit den Augen.
„Was wollen Sie denn mit der Halle anfangen?“, fragte Marius und wünschte sich am liebsten ganz weit weg.
„Ich besitze in Sydney eine Sammlung von historischen Fahrzeugen, alles Oldtimer der ersten Güte. Ich will mir weitere zulegen, allerdings fehlt hierfür der nötige Platz. Wenn meine Leute die Halle leer geräumt haben, werden hier einige Prachtexemplare stehen, das kann ich Ihnen versichern. Meine Großeltern stammen übrigens aus Coldsville. Daher verfüge ich über Kontakte in den Ort und wusste von Ihren Problemen. Außerdem hoffe ich, dass meine Lieblinge hier sicherer sind als in Sydney. Dort wimmelt es vor Spitzbuben, die alles stehlen, was nicht niet und nagelfest ist. Noch einen Scotch?“
Marius lehnte ab und suchte nach einer Ausflucht, um den Mann los zu werden. „Ich habe heute noch viel zu tun.“ Mehr fiel ihm nicht ein. Er rutschte vom Hocker und legte herausfordernd seine Hände an die Hüften. Der Dicke schien es nicht eilig zu haben. Er nippte am Scotch und wollte Marius einen Witz erzählen. Als der leise vor sich hin schimpfend aus einem Schrank Wisch-Mopp, Eimer und Lappen holte und den Mopp wie ein Gewehr über die Schultern legte, verzichtete der Dicke auf seinen Witz und lachte stattdessen über Marius.
„Sie sehen irre komisch aus. Mein Gott, bin ich froh eine Putzfrau zu haben, sonst müsste ich selber reine machen und sähe dann so aberwitzig aus wie Sie.“
„Das freut mich, dass Sie durch mich gute Laune haben. Würden Sie jetzt bitte gehen? Sie halten mich von meiner Arbeit ab.“
Der Dicke ließ seine Zigarette auf den Boden fallen, quälte sich vom Hocker und trat mit einem Tritt den Stummel aus. Dann ging er um die Bar, hielt schnaufend auf Marius zu, dass dem angst und bange wurde und schlug ihm auf die Schultern. „Nichts für ungut, junger Freund, aber das Lachen hält einen Dickwanst wie mich am Leben. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.“
Marius atmete auf und sagte: „Das wünsche ich Ihnen auch.“
„Danke.“
Draußen herrschten fünfunddreißig Grad im Schatten. Marius stand in der Sonne und schaute zu, wie der Dicke in seinen Wagen stieg, sich schwerfällig anschnallte und den Motor startete. Die Klimaanlage begann zu summen, der Dicke ließ die Scheibe hinunter. „Der Sommer bei uns in Australien ist heiß. Selbst der Herbst ist wärmer als in Deutschland der Sommer. Wenn Sie nach Deutschland zurückkehren sollten, können Sie sich vorstellen, dort eine Sauna zu betreiben?“, fragte er glucksend, schloss das Fenster, hupte zum Abschied, sauste auf der Piste drauf los und war vor lauter Staub kaum mehr zu sehen.
Boris verstand die Welt nicht mehr. Umso größer war seine Freude. Konrad ging es besser! Nach wie vor lag er im Bett und konnte keinesfalls aufstehen, doch waren seine Augen lebhafter, und er zeigte Appetit. Konrad wollte Trauben haben. Boris ließ sich das nicht zweimal sagen, und er bat seinen Großvater, der mit ihm im Krankenzimmer weilte, um Geld. Sogleich sauste er los, um Trauben zu besorgen.
Der Großvater wusste Bescheid, wie es um den Freund seines Enkels stand. Als ein Angehöriger seiner Familie vor vielen Jahren gestorben war, hatte er Ähnliches erleben müssen. Der Kranke, der dem Tod bereits ins Auge geblickt hatte, schien sich zu beleben, gar aufzublühen und auf dem Weg der Genesung zu sein. Leider blieb es ein Zeichen dafür, dass der Körper im Kampf gegen den Krebs kapituliert hatte. Jedes Aufbäumen würde vergeblich sein, der Körper wartete auf den Tod und gönnte dem Menschen lediglich ein wenig Zeit, ohne dabei den bohrenden Schmerz weiter ertragen zu müssen.
„Hat Boris den Brief abgeschickt?“
„Das hat er, Herr Weigelt“, antwortete Konrad mit gut vernehmbarer Stimme.
„Wie Sie zurecht vermuten, weiß ich darüber Bescheid, dass sich eintausend Euro im Brief befinden. Boris gegenüber spiele ich den Ahnungslosen. Für meinen Enkel ist es von großer Bedeutung zu glauben, dass er ohne mein Wissen gehandelt hat. Das erfüllt ihn mit Stolz, und den braucht er, um sein Leben leben zu können.“
Konrad nickte. „Er hat sich ganz besonders ins Zeug gelegt, um mir diesen Wunsch zu erfüllen.“
„Boris hat Sie sehr gerne. Für Menschen, die er nicht mag, würde er keinen Finger rühren.“
„Das weiß ich. Ihr Enkel ist mir ans Herz gewachsen. Um mich stehen die Dinge schlecht. Der Tod lauert mir auf wie ein vermummter Bösewicht. Er verbirgt sich, damit er mich um so besser greifen kann. Boris sollte die Trauben besorgen, damit wir beide ein wenig plaudern können. Die Bitte nach den Trauben mag auf Sie wie ein bescheidener Wunsch wirken. Der andere wird ungleich kostspieliger sein, Herr Weigelt.“
„Bitte keine falsche Bescheidenheit, Herr Kilian. Für mich ist es eine Ehre, Ihnen in jeder Form helfen zu dürfen. Was haben Sie nicht alles für meine Familie getan? Am Tag sorgten sie dafür, dass mein Enkel Boris eine sinnvolle Beschäftigung erhielt, und am Abend war ich an der Reihe. Die Gespräche, die ich mit Ihnen am Kamin führen durfte, waren für mich in besonderem Maße erquickend. Ich glaubte, vieles über die Geheimnisse der Natur in Erfahrung gebracht zu haben, aber Sie haben mich eines Besseren belehrt. Die Zeit mit Ihnen verging wie im Flug, das ist das beste Kompliment, was ich einem Menschen zu machen vermag. Allein aus diesem Grunde sehe ich es als meine Pflicht an, dafür Sorge zu tragen, dass Sie den Weg zu Ihrer verstorbenen Gattin finden werden, auch wenn dies für manche Menschen ein wenig makaber klingen mag.“
„Bei Ihrem letzten Besuch fiel es mir schwer, diesen Wunsch auszusprechen, aber Sie sind über meine finanzielle Situation gut im Bilde. So unangenehm mir fallen mag, dies eingestehen zu müssen, aber ich kann meine eigene Beerdigung nicht bezahlen und müsste meine Frau allein im Grab lassen.“
„Es wird geschehen, wie Sie dies wünschen, Herr Kilian.“
„Mein ganzes Leben habe ich gearbeitet und verfüge trotzdem über so wenig Geld. Ich kann das selbst kaum fassen.“
„Sie tragen daran keinerlei Schuld. Das Leben, das Sie geführt haben, war von Demut und Fleiß geprägt. Was zählt in diesem Fall schon das Geld? Davon habe ich so viel, dass es für mich ein Leichtes sein wird, Ihnen diesen letzten Wunsch zu erfüllen.“
Die Tür wurde aufgerissen, Boris stürmte herein. Er rief „Trauben“, hielt sie triumphierend in die Höhe und legte Konrad den großen Bund in den Schoß.
„Du musst sie erst waschen, mein Junge“, ermahnte ihn sein Großvater.
Boris schlug sich gegen die Stirn: „Stimmt.“ Er ging zum Waschbecken, wusch die Trauben, testete an mehreren, ob sie auch gut seien und reichte sie Konrad. Der nahm eine, dann keine mehr, Boris aß den Rest.
Sie saßen für eine Weile zusammen, bis sie von einer Schwester gebeten wurden, dem Patienten die nötige Ruhe zu gönnen. Die Weigelts verabschiedeten sich. Boris sagte: „Bis morgen, Konrad. Ich bin irre froh, dass es dir viel besser geht. Du wirst sehen, bald gehen wir wieder auf die Reiß-Insel.“
„Das wird so sein, Boris“, sagte Konrad und nickte ihm aufmunternd zu.
Nachdem Marius in der Bowling-Halle den Eingang verschlossen hatte, ging er Steinchen vor sich her tretend zu seiner Wohnung, betätigte im Flur den Lichtschalter und klickte ihn hektisch hin und her. Wie am gestrigen Tag und in der Woche zuvor ging Marius kein Licht auf, da ihm der Strom abgeschaltet worden war. In seiner Not hatte sich Marius der Ratschläge seines sparsamen Vaters erinnert, zeitig das Bett aufzusuchen und die Leistung des Kühlschranks zu halbieren, doch war das Elektrizitätswerk unerbittlich geblieben. Marius boxte sich vor Ärger in die linke Hand, dann ging er unter die Dusche. Wasser bekam er, noch.
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