Die Klingel war so klein, dass Marius sie suchen musste. Ein Weilchen verging, bis eine Stimme ertönte, die fragte, wer da sei. Marius gab höflich Antwort und wurde gebeten zu warten.
Marius sah zum Haus, welches auf einem sanften Hügel thronte. Dieses hatte blütenweiße Wände und himmelblaue Fensterläden, dem oberen Stockwerk war eine Terrasse vorgebaut, das Dach aus karminroten Ziegelsteinen errichtet. Der Garten war groß, dass selbst eine Eiche mit ausladender Krone und zwei Nadelbäume Platz fanden. Der weitläufige Rasen wies eine sattgrüne Färbung auf, etwas abseits des Hauses erkannte Marius mehrere Gemüsebeete. Zum Haus führte ein Weg, der von Kieselsteinen bedeckt und mit steinernen Statuen gesäumt war.
Kaum hatte Marius den Blick gesenkt, wurde die Eingangstür nach einem Summton aufgestoßen, und ein junger Mann rannte auf das Tor zu. Unter seinen Füßen knirschte der Kies, mit schnellen Schritten hatte er Marius erreicht und ihm das Tor so weit geöffnet, wie es möglich war.
„Bist du der Sohn von Konrad?“, fragte er aufgeregt.
Marius nickte.
„Du machst jetzt das, was dein Vater gemacht hat?“
Marius zögerte mit der Antwort und murmelte ein „Mal sehen, hoffentlich“ daher.
„Komm rein. Mein Großvater wartet auf dich“, sagte der auffallend große wie kräftige Mann. Er schien sich auf Marius gefreut zu haben, sein breites rosiges Gesicht strahlte vergnügt. Dann rannte er genauso schnell zum Haus zurück. Marius sah ihm nach, während das Tor wieder in das Schloss fiel und er dabei erschrak. Den Weg zum Haus legte er mit wackligen Beinen zurück.
Marius hörte, wie der junge Mann im Foyer nach seinem Großvater rief. „Opa, Opa, er ist da, er ist da. Komm ganz schnell her.“
Dem Großvater war nicht vergönnt, sein Tempo selbst zu bestimmen. Marius hatte durch den geöffneten Eingang sehen können, wie der im Rollstuhl sitzende Mann durch einen langen Flur geschoben wurde, nachdem sich die Tür eines Fahrstuhls hinter ihm geschlossen hatte. Der junge Mann gestikulierte wild und forderte Marius auf, seinen Großvater zu begrüßen. Der lächelte gütig und streckte Marius die Hand entgegen. „Mein Enkelsohn Boris freut sich, dass Sie gekommen sind, Herr Kilian, und ich freue mich auch. Seien Sie willkommen in meinem Haus.“
„Guten Tag, Herr Weigelt“, sagte Marius und war bemüht, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. Marius wusste, dass Herr Weigelt fast neunzig Jahre zählte. Sein Gesicht sah erstaunlich frisch aus, die Falten zeigten sich wenig ausgeprägt. Die Nase war lang und schmal und nicht so dick und knollig wie bei anderen Männern seines Alters. Die Augen waren tief und grau und von dichten Brauen überwölbt. Marius glaubte, einen dunklen Fleck auf der Iris des rechten Auges erkannt zu haben. Auf der Stirn war eine Narbe zu sehen.
Herr Weigelt trug einen himmelblauen Anzug mit dunkler Krawatte. Marius fühlte sich in seiner Bekleidung unwohl, die im Vergleich zu der von Herrn Weigelt als schäbig zu bezeichnen war und verwünschte sich für seine Leichtfertigkeit, keinen angemesseneren Aufzug gewählt zu haben. Der alte Herr schmunzelte.
„Es fällt sogleich auf, dass Sie zuvor in Australien waren. Ihren Mantel würden Sie in Deutschland besser im Januar getragen haben. Ist das nicht der Mantel Ihres Vaters? Er trug ihn, wenn er bei Kälte im Garten den Boden umgrub. Nehmen Sie ihn einfach ab und hängen ihn an der Garderobe auf.“
Marius kam der Aufforderung sofort nach.
„Darf ich Ihnen mein aufrichtiges Bedauern ausdrücken, dass Ihr lieber Herr Vater verstorben ist? Wie dramatisch und bedrückend muss das für Sie gewesen sein, ihn verloren zu haben und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, so ist der Tod Ihres Vaters auch für mich und meine Familie eine besonders schmerzliche Tatsache.“ Herr Weigelt tippte sich an die Stirn. „Herrje, was rede ich für einen Unsinn? Tatsache, welch ein unpassendes Wort. Bitte verzeihen Sie mir, junger Mann.“
„Ich möchte Ihnen für Ihre Anteilnahme danken, Herr Weigelt.“
„Das ist eine Selbstverständlichkeit. Würden Sie mir bitte in die Bibliothek folgen?“
Boris sprang zu einer Tür und öffnete sie. Marius fiel erst jetzt der Mann auf, der Herrn Weigelts Rollstuhl schob. Er war eher klein und schlank und sein Alter schwerlich zu schätzen. Er hatte ein kantiges Gesicht, in dem kleine grüne Augen funkelten. Durch die Ungeduld von Boris ließ sich dieser Mann nicht aus der Ruhe bringen, und er bewegte den Rollstuhl behutsam durch die Tür. Marius folgte ihnen. Kaum war er hindurch, knallte Boris hinter ihm die Tür zu, drängelte sich an den Männern und dem Rollstuhl vorbei und lief zu einem Tisch, an dem eine Frau saß. Die sprang von ihrem Sitz auf und rief: „Nicht so stürmisch, mein Sohn. Du wirfst sonst den ganzen Tisch um.“
„Mama, weißt du wer da ist?“
„Lass dich umarmen, Boris. Ich weiß, wie sehr du dich über den Besuch von Herrn Kilian freust.“
Die Mutter von Boris war weder klein noch gebrechlich, verschwand jedoch in den Armen ihres hünenhaften Sohnes. „Drück mich nicht so fest, ich bin nicht aus Eisen.“
„Entschuldigung, Mama. Ich lass dich jetzt los.“
„Sie müssen Herr Kilian sein“, wandte sie sich Marius zu. „Ich bin Frau Weigelt. Der große Junge hier ist mein Sohn, und meinen Vater haben Sie bereits kennengelernt.“
Frau Weigelt lächelte, Marius auch. Frau Weigelt war eine schöne Frau. Sie mochte fast einen halben Kopf größer als Marius gewesen sein, trug dichte, aber kurz gehaltene schwarze Haare, hatte eine schmale gerade Nase, ein leicht vorstehendes Kinn und wie ihr Vater tiefe, aber dunkle Augen. Ein angenehmer Duft ging von ihr aus. Frau Weigelt machte Eindruck. Marius hörte kaum hin, als er gefragt wurde, ob Kaffee gewünscht sei.
Der kleine schlanke Diener, der, wie Marius vernahm, auf den Namen Karl hörte, servierte Kaffee und Pralinen. Herr Weigelt schwärmte von seiner Bibliothek und sprach von zehntausenden von Bänden, die er im Verlauf von Jahrzehnten unermüdlich zusammengetragen hatte. Marius musste seinen Blick von Frau Weigelt losreißen, um dem ihres Vaters folgen zu können. „Ich habe sämtliche Klassiker gesammelt, Sie finden hier aber auch bekannte Werke der Moderne. Viele davon habe ich gelesen, meine Tochter ebenso, mein Enkel leider kein einziges. Er frönt anderen Leidenschaften.“
Marius schaute zum Stuhl, wo zuvor Boris Platz genommen hatte. Er war leer. Boris hatte seine Tasse Kaffee mit einem großen Schluck ausgetrunken, sich den Mund mit Pralinen voll gestopft und in eine Ecke der Bibliothek verzogen, wo eine Modellrennbahn stand. Dort ließ er ein Rennauto im Kreis herum sausen, bis es aus der Bahn flog.
Frau Weigelt versuchte für Marius eine Erklärung abzugeben, was ihr nicht leicht zu fallen schien. „Boris ist achtzehn Jahre alt und liebt schnelle Autos. Einen Führerschein hat er aber nicht und wird auch nie einen machen dürfen. Er hat leider, als er in meinem Bauch war, zu wenig Sauerstoff abbekommen. Das wird ihn sein ganzes Leben lang prägen. Aber er ist mein Sohn!“
„Und er ist mein Enkel! Mein einziger.“ Herr Weigelt klopfte zur Bestätigung auf den Tisch.
Marius wusste nicht, was er sagen sollte, nickte eifrig und griff dann zur Tasse und einer Praline. Karl schenkte ihm nach.
„Kommen wir zur Sache, Herr Kilian“, sagte Herr Weigelt. „Ich bin ein Mann der Tat. Das Zaudern und Zögern überlasse ich tunlichst anderen. Ich benötige einen Mann, der für mich arbeitet, so wie es zuvor Ihr Herr Vater getan hat. Sie wissen sicher, welche Art von Arbeit hier auf Sie zukommen würde? Vorausgesetzt, dass ich Sie einstelle.“
„Mein Vater hat sich um Ihren Garten gekümmert.“
„Exakter formuliert hat er meine Lieblinge groß gezogen. Meine Tochter und Boris sind schon groß, da musste er nicht mehr Hand anlegen. Ihr Vater hat meine Tomatenzucht weitergeführt. Seit ich ein alter, klappriger Mann geworden bin und mein restliches Dasein im Rollstuhl zubringen werde, war ich hierzu nicht mehr in der Lage, wie sehr ich das auch bedaure. Ihr Vater hat diese Arbeit zu meiner vollkommenen Zufriedenheit ausgeführt. Er sagte mir, Sie hätten ebenso weitreichende Kenntnisse über Tomaten, wie er sie sein Eigen nennen durfte?“
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