Barbara Kohout
Überleben –Was blieb von der Heimat Donauschwaben?
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2013
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.deabrufbar.
Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH
ISBN 978-3-95-488987-7
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel Barbara Kohout Überleben – Was blieb von der Heimat Donauschwaben? Engelsdorfer Verlag Leipzig 2013
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar. Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor 1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH ISBN 978-3-95-488987-7 www.engelsdorfer-verlag.de
Gefühle, Vertrauen, Versprechen
Erinnerungen, alte Aufzeichnungen
Geschichtliches
Das 19. Jahrhundert
Serben und Repressalien
Meine ersten Vorfahren, der Fortschritt und die Menschen
Meine Vorfahren werden erfolgreich
Reformen im Schulwesen und Großvaters Start ins Leben
Das letzte Friedensjahr mündet in die Katastrophe
Neue Grenzen trennen Familien
Nationalismus wird zu Fanatismus
Ein Poker um die richtige Staatsbürgerschaft, - der Not gehorchend Auswanderung
Ama wird Geschäftsfrau
Kultur und Tradition
Wirtschaftskrise
Mädchenjahre im Wandel der Zeit
„Gottes Wort und Luthers Lehr’ vergehen nun und nimmermehr“
Eine Kriegerwitwe und Halbwaisen
Verliebte
Mein Start ins Leben
Der Nationalsozialismus
Bei der Schwiegermutter
Vorübergehende Entspannung für die Deutschen
Wehrdienst
Wiedersehen und Abschied für lange Zeit
Die Zeiten wurden schwerer
Zurück nach Stanischitsch
Impressionen von Normalität
Todesnachrichten werden Alltag
Das Grauen wird sichtbar
Die Evakuierung beginnt
Rote Armee in Stanischitsch
Feind der Deutschen - Tito
Schule
Flucht
Feindesland Österreich
Die schwerste Etappe
Endlich am Ziel
Aller Anfang ist schwer
Wir suchen die Normalität
Ist Religion die Lösung?
Zwischen zwei Welten
Resümee
Anhang
Fußnoten
Gefühle, Vertrauen, Versprechen
Überleben, Überleben, Überleben – wie ich dieses Wort hasse!
Wie paradox! Sollte ich es nicht lieben?
Das kann ich nicht. Ich habe es gefühlte eine Million Mal im Zusammenhang mit „Harmagedon“ gehört. Harmagedon – die Mutter der Schlachten, in der alles vernichtet wird, was nicht des Überlebens wert ist. Nur die wahren Christen würden gerettet und das könnten nur die Mitglieder der Wachtturm-Organisation sein. Doch auch diese müssten sich durch treuen Gehorsam als würdig erweisen. Die klaren Maßstäbe für das Überleben kämen durch Gottes Geist nur von diesem „Mitteilungskanal“. Aber: „Wer überwindet, der wird die Krone des Lebens erhalten.“
Diese Verknüpfung von Hoffnung, die sich als leere Versprechung entpuppte, und der Bedrohung mit Vernichtung, Strafe, die Angst vor dem Blutbad, der Endzeit hat die vergangenen Jahrzehnte meines Lebens geprägt. Ich habe einem Phantom vertraut. Ich habe mich für eine Illusion verausgabt und vergessen, wer ich ursprünglich war.
Ich versuche, meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Ich will nicht daran denken, dass ich sechzig Jahre meines Lebens Menschen opferte, die mich nun verraten haben. Als sie das Vertrauen meiner Eltern mit ihrem Versprechen köderten, dass wir sehr bald „Harmagedon“ überleben werden, gewannen sie auch mein Vertrauen. Hätte ich mich anders entscheiden können? Ein Kind mit elf Jahren ist doppelt gebunden: von den Eltern abhängig und erfüllt von dem Wunsch, auch selbst in der neuen Gemeinschaft anerkannt zu sein. Es war die trügerische Hoffnung, dass wir eine neue Heimat finden könnten – einen Ersatz für die unwiederbringlich verlorene. Auch ich habe ihnen vertraut und alles getan, um mir die Anerkennung und den versprochenen Lohn zu verdienen – das Überleben und das ewige Leben im Paradies.
Nun sitze ich hier und frage mich: Wer bin ich? Was ich nicht mehr sein möchte, weiß ich. Ich möchte kein angstgetriebener Mensch sein, der andere mit Angst vor einer Schlacht infiziert, die alles Leben vernichtet. Ich möchte kein Gottesbild vertreten, das nur einen strafenden, rächenden, parteiischen Gott kennt. Ich möchte nicht mehr mit einem „gut geschulten Gewissen“ handeln, das der Polizist in meinem Kopf ist, der mich ununterbrochen überwacht und alle Taten, die von den vorgegebenen Regeln abweichen, mit schlechtem „Gewissen“ quittiert. Ich will das Gewissen suchen, das wie ein Kompass als Richtungsgeber für mein Leben funktioniert und von einem Gott gegeben wurde, der sich allen Menschen liebevoll zuwendet.
Wenn ich aber wissen möchte, wer ich bin, muss ich an die Anfänge zurückkehren. Ich werde meinen Weg betrachten und den Weg meiner Eltern. Meine Geschichte ist ein Teil der Geschichte der Donauschwaben, der Deutschen Siedler, die während der Habsburger Regentschaft in verschiedenen Gebieten, u. a. Siebenbürgen, Rumänien, in der Banater Region und der Vojvodina, siedelten. Da sich der Siedlungsraum entlang der Donau erstreckte und viele Menschen aus Schwaben stammten, entstand der Name Donauschwaben. Meine Vorfahren siedelten in der Batschka oder Vojvodina. Mir fällt auf, dass ich meinen Kindern kaum jemals von meiner alten Heimat erzählt habe. Es war auch bei uns, wie in vielen Nachkriegsfamilien, üblich, die schlimmen Erinnerungen eher zu verdrängen.
Dann haben wir uns gedankenlos und kritiklos den neuen Ansprüchen der Sekte gefügt. Wie eifrig haben wir die früheren Verbindungen aufgegeben und waren so stolz, Untertanen der „Himmlischen Regierung“ zu sein. Die „Theokratie“, die bald die Weltherrschaft übernehmen würde und alle anderen Königreiche vernichtet.
Dafür haben wir uns „selbst verleugnet“. Wir haben vergessen, was unsere Wurzeln waren. Wir wollten diese Rolle annehmen, für „die Mehrung der Theokratie“ zu arbeiten. Diese Rechnung ist für die Wachtturm-Organisation gut aufgegangen. Sie ist in den vergangenen sechs Jahrzehnten von weniger als 300.000 Mitgliedern weltweit auf mehr als sieben Millionen angewachsen.
Nun, ich gehöre jetzt nicht mehr dazu. Ich muss mich nun nicht mehr an die unmenschlichen Forderungen halten, die genau regeln, mit wem ich befreundet sein kann und mit wem nicht. Das ist sehr gut.
Jetzt möchte ich davon erzählen, wer wir waren und wie es früher war. Dass ich das eines Tages tun wollte, war mir schon immer klar.
Erinnerungen, alte Aufzeichnungen
Aber wie soll ich nun herausfinden, wer ich ursprünglich einmal war? Mit wem habe ich als Kind gelacht und geweint? Was habe ich früher gespielt? Leben noch Menschen, die unsere Nachbarn waren? Welches Leben haben wir vor dieser unsäglichen Zeit der Illusion von einem nahenden Paradies gelebt? Angestrengt versuche ich, in meiner Erinnerung einen Anhaltspunkt zu finden, der mich wieder zu mir selbst zurückführen könnte.
1953, wenige Wochen vor meiner Taufe als Zeugin Jehovas, erhielt ich zum letzten Mal für viele, viele Jahre Geburtstagsgeschenke. Das wichtigste Geschenk war für mich eine Agfa-Box-Kamera. Ich sehe sie von meinem Platz auf dem Sofa aus in der Schrankwand stehen.
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