Bis die Züge zusammengestellt waren, konnten zermürbende Wochen vergehen. Man bewilligte den Transport bevorzugt für (wohlhabende) Verheiratete. Deshalb gab es eine ganze Anzahl Kurzentschlossener, die sich noch in Regensburg trauen ließen. Die Reise donauabwärts war eine Strapaze. Wochenlang waren die Menschen unterwegs, zusammengepfercht auf engstem Raum und bei schlechter Verpflegung. Doch mein Vorfahre überstand die Reise und landete schließlich mit einem Tross Gleichgesinnter in Stanischitsch. Die Neuankömmlinge verstanden weder die Sprache noch die Kultur der Bewohner der 88 Häuser des Dorfes.
Für den Bau winterfester eigener Häuser war es zu spät. Die Neubürger wurden für den ersten Winter bei den Bauern in den umliegenden Ansiedlungen, den “Hodschags” , einquartiert. Die Gastgeber bekamen für jeden Übernachtungsgast von der kaiserlichen Komitatverwaltung in Sombor einen Kreuzer, den sogenannten Schlafkreuzer. Je mehr Menschen in einer winzigen Notunterkunft verstaut wurden, desto mehr Kreuzer sammelte der Bauer ein. Manche konnten auch in Militärunterkünften einen Winter verbringen.
Viele der Ankömmlinge überlebten den ersten Winter nicht, andere litten lebenslang an den Folgen: Die Unterkünfte waren kalt, feucht und eng. Die unhygienischen Verhältnisse bereiteten den Boden für Krankheiten. Besonders Mütter und kleine Kinder fielen Infektionskrankheiten, wie Lungenentzündung, Keuchhusten, Diphtherie, Masern oder der Ruhr, zum Opfer.
Aus den Eintragungen der Matrikelbücher geht hervor, dass in den ersten Jahrzehnten der Ansiedlung die Säuglingssterblichkeit horrend hoch war. Viele Kinder starben in den ersten Lebensmonaten. Es wurde Brauch, dem Nächstgeborenen den Namen des Verstorbenen zu geben. Man glaubte, Gott habe das tote Kind durch eine neue Geburt zurückgegeben.
Die “fleißigen, strebsamen, gehorsamen, frommen deytschen colonis“ wurden großzügig gefördert.
Die Errichtung des Siedlungshauses, die Anschaffung der Gerätschaften und der Tiere, des Saatgutes für die Folgejahre sowie der Nahrung kostete mindestens 200 Gulden. Wer die ganze Summe aufbringen konnte, nach heutiger Währung ca. 150.000 Euro, war für fünf Jahre von allen Steuern und Abgaben befreit, auch von der sogenannten Robot, der Dienstleistungspflicht. Das Siedlungsland, 30 Morgen Ackerland und 10 Morgen Wiesen, wurde den Siedlern kostenlos überlassen. Die Aussicht, Acker und Wiesen als Erbbesitz der Familie zu behalten, war Verlockung und Grund für die Zuwanderer, die alte Heimat zu verlassen. Ab dem sechsten Jahr begann die Steuer- und Robot pflicht.
Unter der Herrschaft Josephs II. wurde die Steuerfreiheit auf 10 Jahre verlängert. Das war auch sinnvoll. Bis das Land für die Bebauung gerodet und für die erste Saat vorbereitet war, verging geraume Zeit und es dauerte Jahre, bis es einen ausreichenden Ertrag und Gewinn abwarf.
Viele hatten das erforderliche Kapital nicht vollständig. Sie bekamen Stundung. Aber sie wurden dann bereits ab dem vierten Siedlungsjahr steuer- und abgabenpflichtig. Wie bei allen Geschäften auf Kredit war das für manchen, der mit großen Plänen und Hoffnungen kam, der Weg in Verlust und Armut. Sie kehrten nicht selten als Bettler in die alte Heimat zurück.
Der überlieferte Spruch: Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not und erst dem Dritten das Brot, bewahrheitete sich oft.
Im Jahre 1800 erhielt Baron Redl von Rottenhausen Stanischitsch und seine Gemarkung als Donat (Geschenk oder Gunsterweisung) übereignet. Es war die Anerkennung der kaiserlichen Hoheit für seine gründliche Arbeit bei der Landvermessung. Aufgrund seiner Arbeit gibt es bis heute die Katasteramtsurkunden aus der Zeit der Donaumonarchie. Jeder, der Grund und Boden erwarb, konnte seinen Besitz nun urkundlich nachweisen. Baron Redl musste für das „Donat“ Grundsteuer entrichten. Auch ein Geschenk gab es nicht vollständig geschenkt.
Als “Patronius” hatte er für die religiösen Belange der Untertanen die Verantwortung zu übernehmen. Ein Teil der Kosten für die Seelsorger bezahlte er aus seinem eigenen Säckel. Den Rest mussten die “Colonis” berappen. Der Baron war geschäftstüchtig. Es gelang ihm, den Ertrag seiner Ländereien beträchtlich zu steigern. Da die Familie Redl katholischen Glaubens war, ließ er nur Katholiken zur Ansiedlung in Stanischitsch zu. Er hatte kein Interesse daran, arme Leute als Kolonisten auf seinem Land anzusiedeln.
Die serbischen Einwohner hatten mehr Dienste zu leisten und ihre Abgaben waren deutlich höher. Ein wesentlicher Grund für die ungleiche Behandlung war die religiöse Intoleranz des katholischen “Patronius“ . Er lehnte den bratoslawischen Glauben ab. Baron Redl belastete die Serben mit einer Reihe von Sonderabgaben. Den zehnten, siebten oder fünften Teil ihrer Erzeugnisse von Weizen, Mais, Schweinen, Ochsen, Wein, Federvieh … mussten sie an den Patron abliefern. Außerdem war jeder Serbe, der eine Session Feld besaß, für 100 Tage im Jahr robotpflichtig. Eine Session war die Mindestgröße an Land, wenn man sich ansiedeln wollte. Es konnte aus Weideland, Ackerland oder Wald bestehen. Ich vermute, dass es die Summe aus 30 Morgen Ackerland und 10 Morgen Wiese umfasste. Dies war auch die Erstzuteilung an die Siedler. Die Serben, die Land besaßen, mussten folglich fast ein Drittel des Jahres, natürlich meistens in der Hauptsaison, für den Baron arbeiten – umsonst „für gute Gesundheit“. Für unbotmäßiges Verhalten wurde die Prügelstrafe eingeführt. Der Aufseher brachte eigens dafür eine “Deres“ mit, eine hölzerne Bank, um gleich an Ort und Stelle einen „Schuldigen“ zu bestrafen. Für eine krumme Furche gab es 25 Schläge. Ein kleiner Schaden durch weidende Schafe wurde ebenfalls mit 25 Schlägen geahndet, ein größerer Schaden mit 50.
Noch eine besondere Art der Demütigung schürte Hass und Verbitterung. Die Erinnerung daran wurde noch Generationen später gepflegt. Im Jahr 1815 begann man, eine katholische Kirche zu errichten. Die Serben mussten im Rahmen ihrer Robotdienste auch beim Bau der Kirche mithelfen. Die Arbeiten an sich waren für die Serben nicht das Problem. Es störte sie der Platz, an dem sie bauen mussten: Die neue Kirche wurde auf dem Friedhof der Serben errichtet. Diese Schändung des Andenkens der Toten konnte niemand verwinden. Bis auf den heutigen Tag begießen Serben die Mauern der katholischen Kirche in Stanischitsch mit Wein, um an ihre Ahnen zu erinnern. Und noch immer bringen einige ihren Hass und ihre Verbitterung dadurch zum Ausdruck, dass sie an die Mauern urinieren.
Ich schätze, die deutschen Siedler machten sich kaum Gedanken über Recht oder Unrecht, das ihren Mitbürgern zugefügt wurde. Sie kamen schließlich mit Billigung und Willen seiner allergnädigsten Obrigkeit und Majestät in dieses Land – unter Einhaltung aller gesetzlichen Vorschriften. Sie hielten sich selbst nicht für die Fremden. Sie sprachen Deutsch – die Amtssprache! Nach Auffassung der Siedler hatte also alles seine Ordnung. Was sie ihrem Standpunkt entsprechend „rechtmäßig“ in Besitz genommen hatten, vermehrten sie mit Fleiß, Ausdauer und Rechtschaffenheit. Darin fühlten sie sich gegenüber den Serben überlegen.
Aus dieser unkritischen, überheblichen Haltung heraus leiteten sie ihr Recht ab, die Serben zu verachten und zu verspotten. Die Serben, so glaubten viele, seien an ihrem Unglück selbst schuld. Sie galten als ungebildet, faul, vergnügungssüchtig, trunksüchtig und rauflustig. Nur wenige brachten Verständnis und Mitgefühl auf. Schüchterne Annäherungsversuche wurden oft durch Missverständnisse im Keim erstickt.
Im Friseursalon meines Großvaters wurde häufig eine Episode aus dieser Zeit zum Besten gegeben: Ein deutscher Bauer breitet nach einer guten Ernte prächtige Kartoffel auf seinem Hof zum Abtrocknen aus. Es kommt ein Serbe vorbei und bestaunt sie. “Ala to je veliki krompir“ ‚ sagt er anerkennend. („Das sind aber große Kartoffeln.“) Der Schwabe versteht ihn nicht. Er hört das Wort veliki und meint, es sei das schwäbische Wort welich ( welk, auch weich). Sofort wird er zornig: „Was sind das? Welchi Krumbiere? Dein A… ist auch welich“ . Das wiederum verstand der freundlich gesinnte Nachbar nicht. Beide waren ärgerlich aufeinander, dabei war es nur ein Missverständnis.
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