Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?
Mediale und konzeptionelle Aspekte sprachlicher Variation
Teresa Gruber / Klaus Grübl / Thomas Scharinger (Hrsg.)
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Satz: pagina GmbH, Tübingen
ISSN 0940-0303
ISBN 978-3-8233-8236-2 (Print)
ISBN 978-3-8233-0347-3 (ePub)
Dem Andenken an
Wulf Oesterreicher
(1942–2015)
Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?
Revisionen eines linguistischen Paradigmas
Klaus Grübl (Leipzig), Teresa Gruber (München) & Thomas Scharinger (Jena)
1 Glanz und Elend eines linguistischen Paradigmas1
Dem von Peter Koch (1951–2014) und Wulf Oesterreicher (1942–2015) erstmals im Jahr 19862 vorgelegten Modell sprachlicher Variation zwischen kommunikativer Nähe und Distanz war in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte beschert (cf. Mensching 2008; Feilke/Hennig 2016a/b). Dazu hat unter anderem die glückliche historische Fügung beigetragen, dass der im Romanistischen Jahrbuch erschienene ‘Gründungsaufsatz’ ganz unvermittelt zu einer Art Programmschrift des Freiburger Sonderforschungsbereichs „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ avancierte, welcher ein Jahr zuvor an der damaligen Heimatuniversität der beiden Nachwuchsromanisten seine Arbeit aufgenommen hatte (Raible 1998, 18s.; Oesterreicher/Koch 2016; Selig 2017). Aus dieser transdisziplinären Forschungseinrichtung, die bis 1996 bestand und seither gerne als „legendär“ bezeichnet wird, sind nicht nur wegweisende sprach-, literatur- und im weiteren Sinn kultur- und textwissenschaftliche Arbeiten hervorgegangen, sondern, gerade im Bereich der romanistischen Linguistik, auch eine beeindruckende Zahl von Schülerinnen und Schülern, die die Freiburger Forschungs- und Lehrtradition ab den 1990er Jahren an anderen Standorten weiterführten und so das Profil der deutschen Romanistik nachhaltig geprägt haben. Nicht zuletzt zählten zu diesen Multiplikatoren die beiden Urheber des Nähe/Distanz-Kontinuums selbst: Peter Koch übernahm bereits 1986, zunächst vertretungsweise, eine C3-Professur in Mainz, bevor er 1990 als C4-Professor an die Freie Universität Berlin und 1996 nach Tübingen berufen wurde. Wulf Oesterreicher begann seine professorale Laufbahn 1991 als Extraordinarius in München und wurde dort drei Jahre später, nach mehreren auswärtigen Rufen, zum Inhaber des sprachwissenschaftlichen Lehrstuhls für romanische Philologie.
In Anbetracht der längst nicht mehr zu überblickenden Zahl von Forschungsarbeiten, die seither in verschiedenen, nicht nur sprachwissenschaftlichen Disziplinen unter Berufung auf das Nähe/Distanz-Modell3 entstanden sind, kann die von Koch und Oesterreicher entwickelte, 1990 monographisch erweiterte und auf drei große romanische Sprachen angewandte Theorie sprachlicher Variation heute ohne Übertreibung als linguistisches Paradigma bezeichnet werden (cf. schon Kabatek 2000; Krefeld 2018). Spätestens mit der 2007 erschienenen spanischen Übersetzung der Gesprochenen Sprache in der Romania waren auch der internationalen Verbreitung, zumindest in der hispanophonen Welt, keine Grenzen mehr gesetzt (cf. aber auch schon die wichtigen Handbuchkapitel in französischer bzw. spanischer Sprache Koch/Oesterreicher 2001 und Oesterreicher 2004; die erste englische Version des 1985er-Aufsatzes erschien dagegen erst deutlich später, nur ein Jahr vor der ersten portugiesischen Übersetzung; cf. Koch/Oesterreicher 2012 und 2013). Im deutschsprachigen Raum markiert die Publikation der zweiten, überarbeiteten Auflage des Buchs im Jahr 2011 den Höhepunkt einer fachübergreifenden Rezeptionsgeschichte, die bereits mit einem vielbeachteten Beitrag der Autoren zum HSK-Band Schrift und Schriftlichkeit beginnt (Koch/Oesterreicher 1994) und die in der Germanistik ganz wesentlich befördert wurde durch drei von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig herausgegebene Sammelbände (Ágel/Hennig 2006; 2007; 2010; cf. außerdem Koch/Oesterreicher 2007 und 2008a).
Die „Sogwirkung“ (Androutsopoulos 2007, 80), die das Nähe/Distanz-Modell in den vergangenen 35 Jahren vor allem in der deutsch- und spanischsprachigen Romanistik, der germanistischen Linguistik und der germanistischen L1-Didaktik entfalten konnte, wird häufig begründet mit der intuitiven Nachvollziehbarkeit seiner mehrdimensionalen, metaphorischen Kernkonzepte (cf. Knobloch 2016; Zeman 2016) sowie der – wohl Peter Kochs didaktischem Talent geschuldeten4 – Anschaulichkeit des Parallelogramms, in dem sich das durch die medial-konzeptionellen Affinitäten definierte Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz aufspannt (cf. Abbildung 1).
Ein weiterer, wenn auch bisweilen übersehener Faktor, der die Rezeption des Modells nachhaltig begünstigte, ist darin zu sehen, dass Koch und Oesterreicher ihre universalistisch fundierte Theorie nicht nur für die gegenwartssprachliche Varietätenlinguistik formuliert haben, sondern sie von Beginn an ganz dezidiert auch auf sprachhistorische Fragestellungen bezogen wissen wollten (cf. dazu bereits den Abschnitt „Zur Geschichte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ in Koch/Oesterreicher 1985, 29–33). In zahlreichen Folgepublikationen haben die beiden Autoren demonstriert, inwieweit ihr begriffliches Gerüst dazu geeignet ist, Prozesse des Ausbaus, der Standardisierung und überhaupt des sprachlichen Wandels zu typisieren – Prozesse, die in der Forschung bis dahin entweder eher theoriefern5 oder aber allzu generalisierend, ohne hinreichende Berücksichtigung varietätenlinguistischer Differenzierungen,6 behandelt wurden. Die Zusammenhänge, die Koch und Oesterreicher in ihren sprachhistorischen Beiträgen – wiederum stets modellhaft, mit einem Fokus auf dem Prinzipiellen – anhand von Fallbeispielen aus verschiedenen Epochen, Kommunikationsräumen und sprachlichen Phänomenbereichen aufzeigten,7 sind seither in unzähligen, oft direkt von ihnen angeregten Einzelstudien methodologisch weiterentwickelt, empirisch unterfüttert und auf neue Untersuchungskontexte übertragen worden. Zwar folgt dieser Boom historisch-varietätenlinguistischer Forschung einem allgemeinen Trend, der sich keineswegs auf die ‘Freiburger Schule’ der deutschen Romanistik reduzieren lässt: Just in den 1980er Jahren hat die historische Sprachwissenschaft bekanntlich ihr Interesse an der Variation (neu) entdeckt und systematisch zu reflektieren begonnen.8 Die seither im Rahmen innovativer, korpusbasierter Ansätze erfolgte Rephilologisierung (und, damit einhergehend, die Überwindung teleologischer Limitierungen auf das Narrativ der Entwicklung von Nationalsprachen9) hat aber zweifelsohne in entscheidender Weise dazu beigetragen, dass das Nähe/Distanz-Modell sehr schnell auch jenseits der gegenwartssprachlichen Varietätenlinguistik – und, wie es scheint, favorabler als dort – aufgenommen und methodologisch fruchtbar gemacht wurde. Die vielfache Kritik, die seit der Erstpublikation der Gesprochenen Sprache an Kochs und Oesterreichers Theorie geübt wurde (s.u.), steht jedenfalls in einem merkwürdigen Kontrastverhältnis zur nach wie vor sehr erfolgreichen Anwendung des Nähe/Distanz-Modells in der empirisch basierten sprachhistorischen Forschung, und es dürfte wohl kaum jemand den deskriptiven Wert und die didaktische Attraktivität in Abrede stellen, die das konzeptionelle Kontinuum bei der Untersuchung historischer Variations- und Kontaktszenarien sowie darin angelegter Entwicklungsdynamiken erweist (cf. dazu etwa Oesterreicher 1995; Koch 2003; Koch 2008 und 2010; Koch/Oesterreicher 2008b).
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