„Man müsste mal in den Trichter hineinklettern“, überlegte Biola.
„Er ist zu tief“, sagte Ched. „Der Trichter hat zu glatte Wände. Wir kämen nie wieder heraus!“
„Und wie wäre es, wenn ich alleine hineinklettere – und du ziehst mich an einer Schnur hoch, wenn ich wieder raus will?“, schlug Biola vor.
„Das könnte klappen“, meinte Ched. „Wir probieren es aus, wenn wir heute Nacht in den Garten gehen.“
„Nein“, sagte Biola. „Heute Nacht werden die Ratten hier überall auf dem Steinboden herumhuschen. Da ist es zu gefährlich.“
„Dann probieren wir es gleich nachher aus. Wenn dein Großvater das Sammeln beendet hat.“
Biola nickte. Das war ein guter Vorschlag.
Sie gingen zurück zu den anderen Mäusen. Und während sie gemeinsam mit ihnen Getreide für den Wintervorrat in langen Marschkolonnen zum Weißen Schloss trugen, stimmten sie in den Arbeitsgesang der sammelnden Mäuse ein:
Halli – Hallo
Sammeln macht uns froh!
Herrlich leuchtet das Getreide,
schöner noch als Goldgeschmeide.
Satt, satt, satt wird,
wer gesammelt hat!
Herbei, herbei,
jeder schafft für zwei!
Ist das Korn erst in den Kammern,
braucht im Winter niemand jammern.
Satt, satt, satt wird,
wer gesammelt hat.
Macht nicht Halt,
der Winter kommt schon bald!
Aber Frost und Kälte-Qual
sind uns völlig piepsegal.
Satt, satt, satt wird,
wer gesammelt hat!
Voran, voran!
Kommt und fasst mit an.
Mäusekind und Großpapa,
jeder ist für jeden da.
Satt, satt, satt wird,
wer gesammelt hat.
Und so weiter und so weiter. Insgesamt hatte das Lied zweiundsechzig Strophen und war damit das kürzeste Arbeitslied der Schlossmäuse.
Ched und Biola fieberten dem Ende der Plackerei entgegen. Nicht, weil sie faul waren oder weil sie wissen wollten, ob sie mehr gesammelt hatten als andere Mäuse – das war ihnen egal. Sie wollten den Mühlstein erkunden. Endlich, es war schon sehr spät geworden, gab Mascarpone das Zeichen zur Heimkehr. Sofort verdrückten sich Biola und Ched und hüpften in schnellen Sätzen zurück zum Mahlwerk und zu den Mühlsteinen.
Sie fanden eine Schnur, an der Ched Biola in den Trichter hinunterließ. Inzwischen war es bereits sehr dunkel in der Mühle. Außer ein paar Körnern zwischen den Mühlsteinen und einer Menge weißem Staub fand Biola nichts am Grund des Trichters. Enttäuscht ließ sie sich von Ched wieder hinaufziehen.
„Da ist nichts Besonderes. Nur Körner und Staub“, sagte sie, oben angekommen. „Aber man kann sich gut vorstellen, was passiert, wenn man zwischen die Steine fallen würde. Sie würden dich im Nu zerquetschen!“
Ched lief ein Schauer über den Rücken.
Sie wollten sich gerade auf den Rückweg machen, da hörten sie ein seltsames Geräusch. Es kam von unten, vom Boden neben dem Mühlsteinkasten.
Vorsichtig schlichen sie an die Kante des Kastens und schauten hinunter. Unter ihnen werkelte jemand im Dunkeln an etwas herum. Das Ding war fast vollständig von einem Haufen Weizen bedeckt.
„Eine Ratte?“, flüsterte Ched.
„Nein. Ich glaube nicht“, flüsterte Biola zurück. In diesem Moment hob das Tier den Kopf, als hätte es Ched und Biola gehört. Die beiden zogen sich blitzschnell zurück.
„Das ist mein Onkel! Onkel Gorgonzolo!“, wisperte Biola.
„Dein Onkel? Aber was macht er da?“
Biola lauschte. Sie hörten das Geräusch von rieselnden Getreidekörnern. Dann sahen sie noch einmal vorsichtig über die Kante.
„Unter dem Korn liegt etwas. Er scheint es auszugraben.“
Plötzlich erklang ein regelmäßig an- und abschwellendes Quietschen, begleitet von schnell aufeinanderfolgenden knackenden Geräuschen.
„Er macht etwas an seiner Maschine!“, stellte Ched fest. „Es klingt, als würde er eine Feder spannen!“
Biola linste noch einmal über die Kante des Kastens. Gorgonzolo hatte aufgehört, an seinem Apparat zu arbeiten. Jetzt schaufelte er Weizenkörner auf die Maschine, bis sie vollständig bedeckt war. Dann sah er sich prüfend um und ging zur Treppe nach oben.
„Das war die Maschine, die er vorhin heruntergebracht hat. Als wir in der Versammlung waren. Aber warum versteckt er sie hier?“
Ched wusste keine Anwort. Gorgonzolo schien etwas zu verheimlichen. Aber was? Biola und Ched hatten nicht viel Zeit darüber nachzudenken. Sie mussten zurück zum Mäusepalast, denn Großvater Mascarpone kontrollierte, ob alle Mäuse nachts zuhause waren, weil er abends die Eingangstür mit einem dicken Draht von innen verschloss.
„Weck mich, wenn der Mond durch das Fenster scheint“, flüsterte Biola Ched zu, kurz bevor sie das Schloss erreichten.
„Der Gemüsegarten wartet!“, antwortete Ched und grinste. „Ich werde dich wecken!“
Ched und Biola waren die Letzten, die durch die Gitterpforte des Vogelkäfigs gingen. Sie hatten noch gewartet, bis Gorgonzolo außer Sichtweite war. Erst dann waren sie zum Mäuseschloss zurückgekehrt.
Als sie das Weiße Schloss betraten, brummte Mascarpone eine mürrische Bemerkung in seine Barthaare, die klang wie: „Ihr wolltet wohl die Nacht in der Mühle verbringen und euch von den Ratten fressen lassen, was?“ Dann verschloss er das Tor und sah noch einmal durch die Metallstäbe hinunter in die finstere Mühle, als würde er jeden Augenblick erwarten, gelb glühende, gierige Augen von hungrigen Ratten im Dunkeln leuchten zu sehen.
Die Eingangshalle war angefüllt mit Getreide, das am nächsten Tag in die versteckten Winterspeicher gebracht werden sollte. Heute Abend war es dafür schon zu spät, und alle Mäuse waren müde vom Sammeln. Sie verkrochen sich nach und nach in ihre Familiennester. Auch Biolas Familie kuschelte sich im oberen Stock des Palastes unter der Drahtkuppel zusammen. Biola war in gespannter Vorfreude auf ihren heimlichen Ausflug mit Ched. Sie legte sich nach ganz außen neben ihre kleine Schwester, sodass nur Pecorini es merken konnte, wenn Biola nachts aufstand und ihre Körperwärme dann nicht mehr da war. Und Pecorini hatte versprochen, Biola nicht zu verpetzen. Konnte man sich auf sie verlassen? Biola hoffte, dass sie ihr Versprechen halten würde.
Das Rumoren der Ratten begann, als der Mond am Horizont erschien. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass sie dort unten waren. Biola hatte sie noch nie gesehen, aber man hörte die scharrenden Geräusche ihrer Krallen und manchmal quiekten sie. Man hörte auch ihr Knabbern und wie sie miteinander flüsterten. Biola wartete auf den Mond, der bald durch das Mühlenfenster scheinen würde. Sie hatte sich vorgenommen, wach zu bleiben bis Ched kam, aber es gelang ihr nicht. Irgendwann döste sie weg. Und dann geschah etwas Seltsames.
Biola träumte. Es war ein Traum von unglaublicher Klarheit. Als wenn sie das, was sie sah, wirklich erleben würde. Die Welt im Traum schien sogar noch wirklicher zu sein als die Welt, die sie im wachen Zustand erlebte, so klar war ihr Traum, so deutlich und greifbar, dass Biola fast dachte, das Geträumte sei das tatsächliche Leben und ihr Leben nur ein Traum.
In ihrem Traum stand Biola auf dem Steinboden der Mühle. Aber es war nicht dunkel. Die Sonne schien durch ein Fenster, und ihr Licht floss golden über die Getreidesäcke und die vielen Weizen-, Roggen-, und Gerstenkörner, die auf dem Boden lagen. Plötzlich hörte Biola eine Stimme.
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