„Das geht schon klar!“, sagte Biola. „Du darfst uns nur nicht verraten!“
„Klar! Wird gemacht!“
Biola zögerte. Dann fragte sie: „Wirklich? Du verrätst uns nicht?“
„Versprochen!“, antwortete Pecorini. „Ich habe nur noch eine kleine Frage.“
„Und welche?“
„Darf ich mitkommen?“
Biola stöhnte.
Kapitel 3
Der verborgene Stiefel
Es war Zeit, zum Mäuseschloss zurückzukehren, denn nachmittags traf sich Biolas Familie, um gemeinsam Körner zu knabbern. Biola, Ched und Pecorini huschten durch die zerbrochene Laterne, die dunklen Gänge und durch die Bücherkiste zurück zum Weißen Schloss. In der Eingangshalle roch es wie immer nach Käse, aber es war niemand da. Dafür tummelten sich die Mitglieder der anderen vier Familien, die ebenfalls im Mäusepalast lebten, im Zwischengeschoss. Sie hielten bereits ihre Knabberstunde.
Biola verabschiedete sich kurz von Ched und krabbelte mit Pecorini weiter hinauf zur Kuppel aus Draht, unter der das Nest ihrer Familie lag – ganz oben im Schloss. Es war ein sehr schöner Ort für ein Nest, weil hier morgens die Sonne durch das Fenster in der Mühle auf das Schloss fiel und man weit hinaus in die Landschaft sehen konnte. Manche Drähte fehlten in der Kuppel des Schlosses, und andere waren zur Seite gebogen, sodass man hinausklettern und auf dem Dach des Vogelkäfigs herumbalancieren konnte.
Für Großvater Mascarpone war das nachmittägliche Körnerknabbern eine heilige Stunde, und er achtete darauf, dass alle dabei waren: Biolas Mutter Ricotta, Biolas Vater Koriander, ihre Tante Halbfettstufe, Onkel Gorgonzolo und natürlich Biola und Pecorini. Heute aber war etwas anders als sonst.
„Wo ist Großvater?“, fragte Biola.
„Haben wir uns auch schon gefragt!“, quiekte Tante Halbfettstufe. „Hoffentlich ist ihm nichts passiert!“ Sie war sehr besorgt. Sie war eigentlich immer sehr besorgt. „Er ist doch NIE unpünktlich!“
„Ich gehe ihn suchen“, sagte Biola, und bevor jemand etwas dagegen sagen konnte, war sie durch die Drähte der Kuppel geschlüpft und hüpfte über das Dach des Mäuseschlosses nach unten.
Sie hatte vor einigen Tagen kurz vor der Knabberstunde gesehen, wie Großvater Mascarpone aus einem Stiefel herausgekrochen war — irgendwo versteckt am Fuß des Gerümpelhaufens. Mascarpone hatte sich damals vorsichtig umgesehen und den Stiefelschaft unter einem Lumpen Stoff verborgen. Was wollte er in dem Stiefel? Warum versteckte er ihn? Biola hatte den Verdacht, er könnte jetzt wieder dort sein.
Sie huschte über eine Bücherkiste, sprang auf einen alten Mantel und auf den Kopf des Schaukelpferdes, der an dieser Stelle aus dem Stapel herausragte. Je näher sie dem verborgenen Stiefel kam, umso mehr verlangsamte sie ihren Lauf. Und sie gab sich Mühe, kein Geräusch zu machen. Vorsichtig schlich sie sich an den Stiefel heran. Der Lumpen war wieder weggezogen worden. Biola lugte in den Stiefelschaft. Ja, da war eine Maus! Und es war tatsächlich ihr Großvater. Biola sah nur seinen Schwanz und sein Hinterteil, aber sie erkannte ihn trotzdem. Man kennt ja das Hinterteil seines Großvaters! Aber was tat er? Biola hörte, dass Mascarpone irgendetwas vor sich hin brummte. War er wütend? Sprach er mit sich selbst? Oder war noch eine andere Maus bei ihm in dem Stiefel? Plötzlich machte er eine Bewegung, und Biola zog sich blitzschnell zurück. Sie sprang hinter ein kaputtes Holzfass, das nach Heringen roch, und sah, wie der Großvater den Stiefel verließ. Er verdeckte den Schaft mit dem Lumpen und begann, langsam zum Mäuseschloss hinaufzuklettern.
„Knabberstunde …“, grummelte er vor sich hin. „Jetzt habe ich fast die Knabberstunde verpasst! Sowas! Sowas! Schlechtes Vorbild! Sehr schlechtes Vorbild!“
Biola wartete, bis er außer Sichtweite war. Dann näherte sie sich noch einmal neugierig dem Stiefel. Ob die zweite Maus noch darin war? War etwas Besonderes in dem Schuh? Biola war angespannt. Sie fühlte Angst. Trotzdem zog sie den Lumpen vorsichtig zur Seite, steckte ihr Näschen in den Stiefel und schnupperte. Es roch muffig, aber nicht nach Maus. Oder wurde der Mäusegeruch durch den Geruch des Stiefels überdeckt? Jedenfalls war es ziemlich dunkel darin.
Biola gab sich einen Ruck und kroch vorsichtig hinein.
„Hallo?“, flüsterte sie. „Ist da jemand?“
Keine Antwort.
Etwas mutiger geworden ging Biola weiter. Aber nur ein kleines Stück. Und dann noch ein Stück. Die Überraschung hätte nicht größer sein können: In der Stiefelspitze lag nur eine Streichholzschachtel. Eine ganz gewöhnliche alte Streichholzschachtel.
Kapitel 4
Urahn Alter Gouda
Biola wartete noch ein wenig, bevor sie zu ihrer Familie zurückkehrte. Sie hoffte, dass niemand fragen würde, wo sie gewesen war, denn sie wollte nicht zugeben, dass sie Mascarpone belauscht hatte. Und sie wollte auch keine Lüge erzählen.
„Fo warft du denn fo lange?“, rief ihr Pecorini fröhlich entgegen – den Mund voller Körner.
„Äh …“ Biola zögerte und nahm sich etwas Weizen.
„Ich war …“
„Sprich nicht mit vollem Mund, Pecorini“, brummte Großvater Mascarpone streng. Schnell stopfte sich auch Biola eine Pfote voll Weizenkörner in den Mund.
„Heute ist ein besonderer Tag!“, hob Großvater Mascarpone an und sah bedeutungsvoll in die Runde.
„Wieso? Verteilst du heute Abend schon wieder irgendwelche Orden?“, fragte Onkel Gorgonzolo.
„Nein“, antwortete Mascarpone und ignorierte den feindseligen Unterton in Gorgonzolos Stimme. „Die Ordensverleihung findet erst morgen Nachmittag statt. Heute ist der Jahrestag von Urahn Alter Goudas Heldentat!“
„Oh, ja! Erfähl noch mal die Gefichte!“, rief Pecorini mit vollem Mund, aber dieses Mal schien das ihren Großvater nicht zu stören.
„Gerne, denn das hatte ich sowieso vor.“ Großvater holte tief Luft. Biolas Vater Koriander seufzte.
„Was gibt es da zu seufzen?“, fragte Mascarpone. „Die Geschichte unseres Ahnen wird von Generation zu Generation weitergetragen. So ist es Brauch! Damit auch die Jugend sie eines Tages weitererzählen kann! Immerhin berichtet sie uns von den Fundamenten unserer Zivilisation!“
„Ja, jaaa …“, murmelte Biolas Vater.
Und während alle anderen weiterknabberten, begann Mascarpone die Geschichte vom legendären Urahn Alter Gouda zu erzählen.
„Unser Urahn war noch eine ganz junge Maus, als er die Heldentat vollbrachte, die den Menschen die Ehrfurcht vor uns Mäusen lehrte. Damals stand diese Mühle noch gar nicht, dieser mächtige Turm, der für uns errichtet wurde, in dem wir leben und in dem uns der Müller Tag um Tag, Jahr um Jahr seinen Korntribut entrichtet. Nein, die Mäuse mussten noch voller Angst vor Menschen und Katzen unter Steinen und Wurzeln am Waldrand hausen …“
„Na und?“, unterbrach Koriander Mascarpone. „Ich bin auch am Waldrand aufgewachsen. Ich kann daran nichts Schlechtes erkennen. Außerdem …“
Sanft legte sich Ricottas Pfote auf Korianders Rücken. Biolas Vater verstand das wortlose Zeichen seiner Frau sofort und verstummte – mit einem weiteren Seufzer.
Mascarpone aber wartete noch einen Augenblick ab, erst dann hob er erneut seine Stimme:
Читать дальше