„Wie gesagt: Unser Urahn Alter Gouda war noch eine junge Maus, als er die Heldentat vollbrachte, die ihn für uns alle zu einem Vorbild werden ließ. Und trotz seines geringen Alters war er schon damals beseelt von großem Mut! Und so hatte er im Gegensatz zu allen anderen Mäusen auch keine Angst davor, die Küche des Menschenhauses aufzusuchen, um für seine Sippe einen schmackhaften Käse oder ein würziges Stück Räucherspeck zu ergattern.
Eines Tages aber begab es sich, dass unser Urahn einen entsetzlichen Schrei vernahm, als er sich der Küche näherte. Helena, die junge Frau des damaligen Hausherren Hector, stand voller Angst auf einem Küchenhocker, und ihr von Entsetzen gezeichneter Blick starrte auf eine gewaltige Ratte, die im Begriff war, einen Käse zu rauben, den Helena auf einem Teller in ihren Händen hielt. Einen wunderbaren Käse, den das Schicksal eigentlich unserem Urahn zugedacht hatte – das spürte dieser sofort, als er das schmackhafte Stück sah. Doch bevor sich die Ratte auf Helena und den Käse stürzen konnte, hatte sich unser tapferer Urahn voller Todesverachtung auf die große Ratte geworfen und sie mit übermäusischer Kraft niedergerungen. Der schreckliche Riesennager aber wehrte sich mit aller Macht, sodass ein heroischer Kampf zwischen ihm und unserem Urahn entbrannte. Das feige Quieken der Ratte übertönte sogar noch die Schreie der jungen Frau auf dem Küchenhocker. Auf dem Höhepunkt des titanischen Kampfes unseres Urahns mit der Ratte betrat schließlich der Hausherr Hector die Küche!“
Als Mascarpone diesen vorläufigen Gipfel der dramatischen Ereignisse erreicht hatte, begann Pecorini, sich an ihre Mutter zu kuscheln, die sofort ihren schützenden Arm um sie legte und ihr zärtlich über den Kopf streichelte. Ohne darauf zu achten, fuhr Mascarpone fort: „Aber Hector, der Hausherr, brauchte im selben Moment schon keine Angst mehr zu haben. Unser Urahn hatte die Ratte bezwungen und brach ihren letzten Widerstandswillen, indem er ihr zwei Schnurrhaare ausriss! Auf jeder Seite ein Schnurrhaar!“
Jetzt ging ein Raunen durch die Zuhörerschaft. Man kannte diese Stelle der Erzählung zwar, aber jeder wusste aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft bereits das bloße Ziehen an einem Schnurrhaar war. Um wie viel schrecklicher musste es sein, wenn einem die Schnurrhaare AUSGERISSEN wurden. Das beeindruckte alle Zuhörer zum wiederholten Mal. Sogar Koriander.
„Die feige Ratte“, fuhr Mascarpone fort, „schrie laut auf. Aber noch stärker als der körperliche Schmerz wirkte die Demütigung, die unser Urahn dem eigentlich überlegenen, scheußlichen Nager beigebracht hatte. Denn, wie ihr wisst, gab und gibt es auch heute noch keine größere Schande als den Verlust eines seiner Schnurrhaare im Kampf durch die Pfote eines überlegenen Gegners.“
Für einen Augenblick schwieg Mascarpone, dann blickte er seltsam ernst und abwesend in die Ferne. Biola schien es, als wanderten seine Gedanken an einen anderen Ort jenseits unserer Welt. An einen finsteren Ort, einen Ort dunkler Geheimnisse, die Mascarpone mit niemandem teilen wollte. Schließlich besann er sich und fuhr mit seiner Schilderung der historischen Ereignisse fort: „Als der damalige Hausherr Hector sah, mit welchem Mut und welchen Urkräften unser Ahn die große Ratte besiegt und ihn selbst und seine junge Frau gerettet hatte, da nahm er das Stück Gouda-Käse von dem Teller, den seine Frau immer noch in Händen hielt, und reichte es unserem Urahn. Dabei verneigte er sich tief und schwor, so hat es unser Urahn erzählt, dass er ihm, dem Retter seiner Frau und Beschützer aller Menschen, zu ewigem Dank verpflichtet sei und ihm darum ein Denkmal setzen wolle, das einer großen Maus wie ihm würdig sei. Am nächsten Tag dann begann der Bau der Mühle, der mit der Aufstellung unseres Schlosses seinen Höhepunkt fand. Und seitdem bringen uns alle Menschen der Umgebung Tag um Tag, Jahr um Jahr Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Dinkel als Tribut – um sich unsere Gunst zu erhalten. Unser Urahn aber war der Erste, der seinen alten Namen ablegte und einen aus der Käseliste annahm, die schon damals den Boden unserer Schlosshalle schmückte. Alter Gouda – so nannte er sich, wie wir alle wissen.“
Biolas Vater sah ihre Mutter an, und Biola bemerkte, dass er gerne etwas losgeworden wäre, aber Ricotta lächelte nur und legte ihre Pfote auf seine.
Die kleine Pecorini aber fragte: „Wie hieß unser Urahn denn vorher?“
Großvater Mascarpone antwortete: „Sauerampferich Kerbelfeld. Warum?“
Biola musste sich ein Grinsen verkneifen. Diesen Teil der Geschichte kannte sie noch gar nicht. Aber mit dem Namen Sauerampferich Kerbelfeld hätte sie sich ganz bestimmt auch nach einem neuen Namen umgesehen. Das war sicher!
„Leider“, fuhr Mascarpone fort, „ist das aber noch nicht das Ende der Geschichte. Ja, ja, Koriander. Du brauchst nicht die Augen zu verdrehen. Der zweite Teil ist nicht so ruhmreich und schön wie der erste, aber er ist uns eine Mahnung für die Zukunft, und darum wollen wir ihn gerne hören!“
Kapitel 5
General Barleys Rache
„Unser berühmter Vorfahre wurde älter“, fuhr Mascarpone in seinem Bericht über das Schicksal des Urahns Alter Gouda fort. „Und eines Tages wurde er feierlich zu meinem Vorgänger in das Amt des Schlossmäuse-Anführers gewählt. Die feige fette Ratte aber, sie nannte sich General Barley, erklärte sich zur selben Zeit zum Obernager ihres Clans, und während unsere Vorfahren ihren rechtmäßigen und verdienten Platz hier oben im Schloss einnahmen, grub das lichtscheue Rattengesindel Gänge und Höhlen unter der Mühle, um nachts das Korn zu stehlen, das die Menschen nur uns zugedacht hatten. Leider, leider sind die Menschen nicht klug genug, um diesen Betrug zu bemerken.“
„Und wir“, fügte Onkel Gorgonzolo grimmig hinzu, „sind nicht Maus genug, diesem Rattengewürm entschlossen entgegenzutreten!“
„Was ist dann mit dem Urahn passiert?“, wollte Pecorini wissen.
„Etwas sehr Schreckliches!“, sagte Mascarpone. „Etwas, das ich deinen jungen Mäuseohren am liebsten nicht erzählen möchte, damit du nachts weiterhin ruhig schlafen und tagsüber unbeschwert dein Leben genießen kannst. Aber eines Tages musst du es ja doch erfahren! Die Wahrheit ist: General Barley lauerte unserem Urahn auf und schnitt ihm drei Barthaare ab! DREI Barthaare! Nicht zwei. DREI!“
„Ach so“, sagte Pecorini, „das wusste ich schon.“
„Eine entsetzliche Tat“, grollte Mascarpone. „Voller Hinterlist. Voller Heimtücke und Gemeinheit!“ Mascarpone ereiferte sich immer mehr, und seine Stimme wurde immer lauter. „Wie konnte er es wagen, unseren Urahn dermaßen zu entstellen und zu demütigen? Aber, und das schwöre ich, es kommt der Tag, an dem ich diese Schandtat ungeschehen machen werde, indem ich dem jetzigen Anführer der Ratten, der weißen Ratte, VIER Schnurrhaare abschneiden werde. Jawohl! So wahr ich Mascarpone heiße. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“ Mascarpones Stimme hatte sich überschlagen. Jetzt beruhigte er sich wieder etwas. Dann bemerkte er: „Ich weiß nur noch nicht, ob ich ihm auf jeder Seite zwei Haare abschneiden soll oder drei auf der einen und eins auf der anderen. Oder sogar alle vier auf einer Seite.“
„Die Ratten haben eine weiße Ratte als Anführer?“, fragte Biola.
„Ja“, sagte Großvater Mascarpone, „und sie ist mindestens so groß wie unser Schloss!“
„Beim letzten Mal hast du gesagt, sie sei halb so groß wie unser Schloss“, bemerkte Ricotta beiläufig.
„Na und?“, schnarrte Mascarpone. „Sie ist eben gewachsen seit dem letzten Mal!“
„Seit vorgestern?“, fragte Biolas Vater. „Vorgestern hast du zum letzten Mal von der weißen Ratte erzählt.
Nachdem die Kinder eingeschlafen waren. Das Thema scheint dich ja schwer zu beschäftigen in letzter Zeit. Ich finde, man sollte aufhören mit diesen Schnurrhaargeschichten. Erst ging es um zwei Schnurrhaare, dann um drei, jetzt geht es schon um vier. Wohin soll das noch führen?“
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