„Luther! Bist du wohl ruhig?“
„Ruhig soll ich sein? Wo doch der Papst die Gewissen aller Christen geknechtet hat, wo die Beicht zum Instrument des Teufels worden ist und die Kirch über die armen Christen herrscht wie der Satan mit der Peitsch.“
„Mäßige dich, Luther! Und immer gleich mit dem Teufel zur Hand, was?“
„Ja, hab viel mit dem Teufel zu tun. War ein Kampf auf Leben und Tod, sich gegen die ganze römische Christenheit zu stellen, wenn die Zweifel an dir nagen. Einmal nachts hat der Teufel mit mir disputieret, hat mich anklagt, dass ich sei ein Dieb, weil ich den Papst und so viele Klöster beraubt hätt. Aber ich han ihm nicht antworten wollen und hab zu ihm g’sagt: ‚Leck mich am Arsch!’ Da hat er aufgehört. Anders kann man ihn nit loswerden.“
Luther blickte Sonnhüter an, der gerade den Wagen parkte: „Du weißt nicht, in welcher Knechtschaft die Christenleut warn zu meiner Zeit. Hier bei euch, im bewegten Zeitalter, geht’s leicht und glatt daher. Aber die Christen zu meiner Zeit waren wie die Jüden in Babylon und haben gezittert vor den Strafen der Kirch. Da musste doch einer dreinschlagen, damit der Furz aus der Sau rauskömmt!“
Sonnhüter schüttelte den Kopf: „Jetzt redest du wieder dein Lutherdeutsch.“
„Ja“, sagte Luther, der sich nicht beirren ließ, „wenn der Papst sein Kron absetzt und von seim Thron runtersteigt und auf den Primatanspruch verzicht’ und bekennt, dass er geirrt hätt, dass er die Kirch verdorben und unschuldig Blut vergossen hätt, dann wollen wir ihn wieder in die Kirch aufnehmen. Kein Christenmensch braucht den Papst. Soll sich all auf die Gnad Gottes verlassen und darauf scheißen, was die Kardinäl, Priester und Pfaffen schrein. Das ist genug. Amen!“
Sonnhüter stöhnte, zog die Handbremse und schaltete den Motor ab.
„Hier sind wir. Das ist die katholische Kirche. Sie ist aber erst Jahrhunderte nach dir gebaut worden durch Zuzug. Also, willst du nun rein oder nicht?“
„Kein zehn Pferd schleppen mich in das Sklavenhaus.“
Trotzdem öffnete Luther die Autotür und stieg aus. Erstaunt folgte Sonnhüter ihm mit seinen Augen und sah, wie Luther neben die Eingangstür trat, an seiner Jeans herumnestelte und schließlich anfing, an die Kirchenmauer zu pinkeln.
Entsetzt sprang der Pfarrer aus dem Auto, rannte zu dem pinkelnden Luther und rief: „Aufhören! Bist du verrückt?“
Luther beendete in aller Seelenruhe sein Geschäft. „Was ist passiert? In meiner Zeit pissen alle Männer gegen die Wand, wenn sie zuhaus kein Gelegenheit nicht haben.“
„Aber hier geht das nicht. Und dann noch gegen die Mauer der katholischen Kirche!“ Sonnhüter blickte sich besorgt um und sah zu seinem Schrecken, wie eine Frau aus einem Haus stürzte und schrie: „Also, das geht nicht!“
Der Pfarrer ging auf sie zu und versuchte, sie zu beruhigen.
„Keine Sorge, das ist mein … Bruder. Ist schon leicht dement. Tut mir leid!“
Er hakte Luther unter und schleppte ihn zum Auto. So schnell wie möglich bugsierte er ihn wieder auf seinen Sitz und ließ sich neben ihm nieder. Im Wegfahren sah er, wie die Frau inzwischen eine Gießkanne besorgt hatte und Luthers Urin begoss.
„Ach, Sonnhüter“, beruhigte ihn Luther, als sie wieder auf der Straße waren, „du machst dir viel Sorg und Müh. Hat nicht unser Herr gesagt: Nicht das macht unrein, was von außen an den Menschen kömmt, sondern was von innen herauskömmt? Im Herzen herrscht Betrug und böse Herrschaft, Hass und Neid und Frömmelei. Was soll das bisschen Pisse der Kirche schon anhaben, es ist ja doch nur ein äußerlich Geschäft? Man sollt viel mehr beten als sich über so Ding aufregen. Wie oft betest du am Tag?“
Der Pfarrer blickte Luther ratlos an.
„Ja, ich … weiß nicht genau“, stammelte er, „ich zähl es nicht nach.“
„Frisch gebetet, an Gottes Tür geklopft und dagegengetreten ist mehr wert als tausend gelehrte Wort! Aber eins schenkt mir groß Zuversicht.“
„Was denn?“
„Dass es immer noch die Bibel gibt. Verba Dei cessare possunt.“
„Ja“, nickte Sonnhüter, „da scheint etwas dran zu sein, dass Gottes Worte nicht vergehen können. Ist schon eigenartig. Ich versteh’s im Grunde nicht.“
2. 7. 2017
Allmählich dämmert es mir, was ich mir da aufgeladen habe. Ein Mensch, noch halb aus dem Mittelalter und halb aus der Renaissancezeit, fährt mit mir durch das 21. Jahrhundert. So scheint es jedenfalls. Oder ein Mensch, der sich ganz auf Luther eingeschossen hat. Und alle seine Urteile und Vorurteile hat er im Rucksack dabei und packt sie ungeniert aus. Manchmal bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich ihn von der Seite betrachte. Er ist einfach so ungeschminkt und derb. Man denkt, er ist nicht ganz dicht, und dann spüre ich, wenn ich mir seine Zeit vorstelle, was er geleistet haben muss: sich als Einziger gegen diese riesige, mächtige Kirche zu stellen. Er hat Widerstand geleistet gegen Gewohnheiten, die scheinbar von Gott verordnet und über tausend Jahre alt waren. So kam es ja den Leuten vor. Sie hatten Angst vor der Kirche und gleichzeitig Angst, aus dem Gefängnis befreit zu werden, das ihnen Sicherheit gab. Wahrscheinlich kann ich mir nicht vorstellen, was es bedeutete, damals gelebt zu haben.
Und wie dieser Mann seine Meinung zum Besten gibt, ohne einen Hauch von Verunsicherung. Und fragt mich auch noch nach meinem Gebetsleben aus. Ich ahne, dass mich der Luther mit meinem Atheismus noch mal in die Zange nehmen wird. Aber ich lass mich durch so einen mittelalterlichen Gesellen nicht umstimmen. Das wäre ja noch schöner!
Der Luther muss aber auch Depressionen gehabt haben, als er dieses Projekt Reformation stemmte. Nicht umsonst erzählt er immer wieder, wie er gegen den Teufel angehen musste.
Aber sein Antivaterunser gegen den Papst, das war schon harter Tobak. Der Papst hat wohl all das repräsentiert, wogegen er kämpfte.
Da kann ich mich noch auf einige Überraschungen gefasst machen!
Und dann ist es mir, als ob ein Stromstoß durch meinen Körper geht, wenn ich daran denke, dass ich mit einem Mann zusammenwohne, der 500 Jahre einfach übersprungen hat.
Aber nein, das kann einfach nicht sein! Gert hat recht. Zwei, drei Jahre könnte man vielleicht durch Weltraumreisen überspringen, aber nicht fünfhundert. Entweder der Mann ist ein genialer Schauspieler, oder er kommt aus einem Paralleluniversum, oder er hat eine Persönlichkeitsstörung. Vielleicht hat er sich so mit Luther identifiziert, dass er denkt, er sei tatsächlich Luther.
Wenn ich mir vorstelle, was er bei der Konferenz sagen wird, wenn er alle die Pfarrer sieht. Es kann sein, dass er dann so vom Leder zieht, dass uns Hören und Sehen vergeht. Apropos Hören. Ein besonderes Erlebnis waren die Kopfhörer, die ich Luther aufgesetzt habe, mit Renaissancemusik. Er war hin und weg von dem Stereoklang. Wie ein Kind, vor dem eine Fee steht!
Ich habe keine Ahnung, wie das alles weitergehen soll.
Mein Gott, worauf hab ich mich da eingelassen!
War das ein Gebet?
Die Gewohnheiten sitzen tiefer als mein Unglaube.
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