Iris Weitkamp
Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel
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Inhaltsverzeichnis
Titel Iris Weitkamp Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel Dieses ebook wurde erstellt bei
eins
zwei
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sechs
sieben
acht
neun
zehn
elf
zwölf
... und noch ...
Impressum neobooks
Der Arzt in der Unfallambulanz der Neuen Kliniken sah aus wie neunzehn, war offenbar frisch von der Uni und schien schon die Messer zu wetzen.
„Ich würde so einen Bruch ja immer operieren. Macht man heutzutage so. Natürlich kann man das auch konventionell behandeln. Es gibt halt noch die Ärzte der alten Schule“, er zuckte die Schultern, „die sagen wir haben das immer so gemacht ... Aber das hat der Oberarzt zu entscheiden. Er müsste jeden Moment hier sein.“
Inga lehnte sich vorsichtig in ihrem Stuhl zurück und stöhnte. Ihr linkes, dick geschwollenes Handgelenk pochte höllisch und nahm jede Bewegung übel. Nach dem Stirnrunzeln der Röntgenschwester hatte sie schon geahnt, dass sie nicht mit einem Verband davonkommen würde, und mit einem Gips gerechnet. Aber eine Operation? Das schien doch etwas übertrieben zu sein. Und ausgerechnet jetzt einfach zu viel für sie, da sie vollauf damit beschäftigt war, ihr Leben neu in den Griff zu bekommen. Was für eine Frau in ihrer Lage schon mit zwei gesunden Händen schwierig genug gewesen wäre. Oh nein, das ist nicht fair, wie soll ich das alles schaffen, überlegte Inga. Sie versuchte vergebens, an den Krankenhausgerüchen vorbeizuatmen, die sich in der klimatisierten Luft festgesetzt hatten wie schlechte Angewohnheiten. Ihr Magen begann zu flattern. Mit dem Druck, unter den sie sich gesetzt fühlte, lief wieder dieser Film vor ihrem geistigen Auge ab: Detlefs dunkelrotes Gesicht direkt vor ihrem, so dicht, dass Speicheltröpfchen, die er zusammen mit seinen Schmähworten ausspie, ihre Wangen trafen. Der plötzliche Sichtwechsel auf die neue Sofagarnitur, als ihr Kopf zur Seite flog. Die Flucht aus einer Wohnung, die nie etwas anderes gewesen war als ein bis ins Detail durchgestylter Selbstbetrug ...
Ruhig bleiben, mahnte Inga sich, das ist seit Monaten vorbei, das hast du überstanden. Du wirst auch dies hier überstehen. Erstmal weiteratmen. Hören, was der Fachmann meint.
Fünf Minuten später wehte der angekündigte Oberarzt, in modisch-teurer Freizeitkleidung und mit lässig übergeworfenem offenen Kittel, temperamentvoll in den Raum. Lange Beine in Jeans, die exakt die derzeit angesagte Waschung aufwiesen. Edle Lederschuhe, Designerbrille, Chronograph am Handgelenk. Er fuhr sich durch sein volles, gut geschnittenes schwarzes Haar und setzte sich rittlings auf einen Schreibtischstuhl, mit dem er im selbem Schwung direkt vor Inga zu stehen kam.
„Na, was haben wir hier?“
„Leicht dislozierte distale Radiusfraktur links.“
„Wie ist das passiert?“
„Die Patientin ist aus einem Kirschbaum gefallen.“
„Sie wollen mich wohl verarschen. Hochsaison für Kirschbaumstürze ist im Juni. Jetzt haben wir Februar.“
„Es stimmt“, mischte Inga sich ein. Beide Ärzte schauten sie an. Peinlich wurde ihr bewusst, dass sie ihre älteste Jogginghose und einen linksseitig ausgezogenen Fleecepullover trug, der voller Heuhalme hing und nach Pferd roch. Ihr Haar hatte sie unordentlich unter eine selbstgestrickte Mütze gestopft. Wie frau eben aussah, wenn sie nur kurz die Tiere versorgen und dann wieder zurück aufs Sofa wollte. Tatsächlich fühlte sie sich durchaus nicht passend angezogen, um sich mit einem irritierend gutaussehenden Oberarzt auseinanderzusetzen. Alles nur, weil diese blöde Nachbarskatze bei Glatteis in den Kirschbaum klettern musste, dachte Inga giftig. Was hatte eine Perserkatze mit etwas Grips im Kopf mitten im Winter in einem verschneiten Baum zu suchen?
Miezi, der Name sagte alles, war allerdings unter normalen Umständen schon nicht die Hellste, und ohne ihr geliebtes Frauchen im Haus komplett unzurechnungsfähig. Inga mochte die schrullige Frau Reuter und tat ihr gerne den Gefallen, ab und zu ihre geliebte Katze zu versorgen, wenn sie ihre Schwester besuchte. Als das dumme Tier mittags kläglich von der Kirsche heruntergemauzt hatte und sich weder mit guten Worten noch mit Rinderhack locken ließ, blieb Inga zunächst unbeeindruckt. Doch die Stunden vergingen, es war kalt, und schließlich holte Inga die lange Leiter aus dem Schuppen und kam dem Vieh zu Hilfe. Ob die Leiter auf dem glatten Schnee oder vom vereisten Stamm abgerutscht war, konnte sie nicht sagen. Beide erreichten den Boden schneller als geplant, die Perserin unverletzt, Inga mit einem stechenden Schmerz im linken Handgelenk, das zusehens anschwoll. Sie biss die Zähne zusammen, fütterte Petersens Ponies und versorgte ihre eigenen Meerschweinchen. Als die Schmerzen immer heftiger wurden und eine zittrige Übelkeit hinzu kam, hatte Inga sich von ihrer Nachbarin Marianne ins Krankenhaus bringen lassen. Da saß sie nun, hin- und hergerissen zwischen Sorgen um ihren Arm und dem Wunsch, diese beiden schnöseligen Streithähne anzufauchen. Sie biss sich auf die Lippen.
„Also, es gibt zwei Möglichkeiten. Wir können eine Gipsschiene anlegen, die müssen Sie dann mindestens sechs Wochen tragen und in der Zeit die Hand schonen. Oder wir setzten da eine Metallplatte rein, dann können Sie sie bald wieder belasten.“
Ja - sollte sie das etwa selber entscheiden? Wie konnte sie wissen, was besser war? Eine Operation kam nicht in Frage, nicht mit all den Terminen, die sie wahrzunehmen hatte. Wenn aber der Knochen sonst womöglich nicht richtig zusammenwuchs ...? Wie sie es drehte und wendete, sie hatte ein echtes Problem. Auch mit einem Gips würde sie kaum arbeiten können. Inga starrte den Arzt verzweifelt an.
„Wissen Sie was, wir versuchen es mit der Schiene, und Sie kommen in fünf Tagen zur Kontrolle. Wenn die Bruchstellen dann nicht gerade voreinander geblieben sind, können wir immer noch operieren. Es wäre für eine Operation sowieso besser noch zu warten, bis der Arm etwas abgeschwollen ist.“
Das klang vernünftig. Bevor er wieder verschwand, wies der Oberarzt seinen jungen Kollegen an, wie die Hand in dem Gips gewinkelt sein sollte.
„Sie fassen hier an ... und hier ... und biegen dann so ...“
„Ich weiß, wie ich das machen muss“, entgegnete dieser pampig.
Sieh mal an, dachte Inga, der Angriff des Jungvolkes auf die Vormachtstellung des alten Leithengstes lief in vollem Gange. So alt sah der allerdings gar nicht aus. Hinter dem Schickimicki-Outfit und dem weißen Kittel schimmerte noch etwas anderes durch. Da lag etwas in seinen Augen, in seinem Blick, das verriet, dass er nicht nur ein braver Chirurg war. Er hatte so etwas von ‚Bad Boy’ ... Wie er eben ‚verarschen’ gesagt hatte, das klang auch nicht gerade akademisch. Er nervt, aber er ist irgendwie ein echt cooler Typ, dachte Inga. Jetzt reichte ein scharfes Aufblitzen aus seinen dunkelbraunen Augen, um den Assistenzarzt verstummen und den Blick auf sein Clipboard senken zu lassen. Noch blieb die Macht des Alphawolfes unerschüttert. Er nickte Inga aufmunternd zu, dann war er schon wieder zur Tür hinaus.
Draußen dämmerte es bereits, als der mürrische Jungdoktor mit dem Gips fertig war. Inga steckte den Kopf zum Wartezimmer herein und gab Marianne Bescheid.
„Ich muss mir nur noch einen Termin für die Kontrolle geben lassen, dann können wir fahren.“ Das wurde auch Zeit, fiel Inga ein. Ihre Nachbarin war nachtblind.
Entsprechend aufregend verlief die Rückfahrt. Marianne lehnte mit verkrampften Händen über dem Lenkrad und blinzelte hilflos durch die Windschutzscheibe, während Inga dirigierte: „Bisschen weiter rechts halten ... nein, nicht so weit ... jetzt genau geradeaus. Da kommt gleich eine Kurve nach links ...“
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