Kopjas Zwillingsbruder Jakop sprüht Aggressionen wie ein junger Vulkan. Als der Sechsjährige wie vom Erdboden verschluckt ist, muss der zarte, heitere Kopja die Lücke füllen. Über Jahre übt er ein Glaubensbekenntnis der Bruderliebe ein, formt den Verschollenen zur Religion, zur Mythologie und bekämpft toxische Übergriffe der Familie, der Mitschüler und der Gesellschaftsbilder auf sich als nicht-binären Körper in einem provinziellen Deutschland, in dem es vor unterschwelligen Ressentiments, Erniedrigungen und Körperfeindlichkeit wimmelt. Aber Kopja bleibt voller Hoffnung. Nachdem er von zu Hause ausreißt, stößt er auf eine heiße Spur: Wurde Jakop damals entführt? Die Suche nach dem Bruder beginnt. Queere Liebschaften, neue Freunde und eine vergessene Schwester reißen Kopja dabei in einen schrillen Sog, Antworten zu finden auf die Zweifel an Körper, Geschlecht und Sexualität, in der Männlichkeit stets eine Selbstausbeutung einfordert. Bis er sich in einem entblößenden TV-Casting wiederfindet, um diesen Vulkan in sich und auch seinen Bruder ein für alle Mal zur Ruhe zu bringen, während eine Naturkatastrophe alle bisherigen Siege erneut aufs Spiel setzt.
JCHJ V. DUSSEL, * 1988 in Niedersachsen, ist Autorj, Musikerj und Performance-Künstlerj. Jchj studierte in Braunschweig und Istanbul Film/Video, Performance, Malerei und Freies Schreiben. Diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. J gründete mit Moritz Sauer das Performance-Kollektiv BR*OTHER ISSUES. Js Text DARK ROOM wurde 2019 am Schauspiel Hannover uraufgeführt und 2021 am Maxim Gorki Theater Berlin in überarbeiteter Form als Stream verfilmt. J war 2018–21 Mitherausgeber*in der Literaturzeitschrift Glitter und ist aktuell Stipendiat*in des Instituts für Digitaldramatik am Nationaltheater Mannheim.
Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen ist Jchj V. Dussels Romandebüt.
Jchj V. Dussel
AUS DEM SCHLAFENDEN VULKAN AUSBRECHEN
ROMAN
© Luftschacht Verlag – Wien
luftschacht.com
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage 2022
Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuss studio | matthiaskronfuss.at
Umschlagbild: © Filip Henin | filiphenin.com „Ocean drift“, 2020, Acryl und Öl auf Leinwand, 150×190 cm.
Lektorat: Teresa Profanter
Satz: Paul Frenzel
Gesetzt aus der Noe, der Metric, der Avenir, der BonaNova und der Menlo.
Druck und Herstellung: Finidr s.r.o.
Papier: Munken Print Cream 90 g/m 2, Surbalin glatt 115 g/m 2, Geltex 115 g/m 2.
ISBN: 978-3-903422-00-1
ISBN E-Book: 978-3-903422-01-8
Für meinen Zwillingsbruder
Moritz
und für die,
die unermüdlich aufgeweckte Worte für sich suchen …
TEIL I: MITLEID MIT DEM GIFT DER DEUTSCHEN MÄNNLICHKEIT TEIL I MITLEID MIT DEM GIFT DER DEUTSCHEN MÄNNLICHKEIT „Cause if you like the way you look that much Oh, baby, you should go and love yourself“ – Justin Bieber
Ich glaube
Würmchens Geburtstag
Die Einschulung
Der große böse Wald
Die Taufe
Die neue Zeit
Die vielen Bücher und ein Vokuhila
Heimgeholt werden
Außerirdisch
Die Metamorphosen des Planeten Witterse
Erste Superkräfte
Mit einer eindeutigen Erscheinung
Sie in Schaukästen konservieren
Grausame Taten
Credo und ein Kammerspiel
Das Referat war ein erstes Date
TEIL II: EIGENE WORTE FINDEN UND SIE WIE KISSEN AUFSCHÜTTELN
Ich glaube, ich brauchte ein neues Zuhause
„Wo ist das Huhn“
TEIL III: EIN VULKANGOTT WERDEN FÜR WEN
Ich glaubte fest daran, dass Jakop
Ich traf Cord
Aynur kam
Ein Orakel
Lenas Geburtstagsgeschenk
Jakop auf dem Festival
Pinky
Dejans Party
TEIL IV: AUSBRECHEN ODER ENDLICH AUSSCHLAFEN
Eine liebeskranke Welt will
Am winzigen Backsteingebäude des Kunstvereins
„Na, Großer?“
Mein Glaubensbekenntnis
Das Fiennale
DANK
Laufen die Kameras? Gut .
Dies ist die Geschichte, wie ich meinen Zwillingsbruder aus Versehen … umbrachte, mich … aus Versehen … in ihn verliebte, als ich ihn Jahre später wiedertraf … Ja, wiedertraf! Und wie meine Freund*innen und ich während einer Naturkatastrophe erst herausfanden, was es bedeutet, ein echter Mann zu sein … Und warum die große Liebe mir selbst da wieder durch die Lappen ging … Also, die Story beginnt zunächst etwas toxisch, aber rasant, männlich eben, sind Sie bereit dafür? Ich bin es .
Let’s go …
TEIL I
MITLEID MIT DEM GIFT DER DEUTSCHEN MÄNNLICHKEIT
„Cause if you like the way you look that much
Oh, baby, you should go and love yourself“
– Justin Bieber
„FANG AN“, schnauzte Jakop, nur weil ich ihn berührt hatte.
Danach mordete er weiter und wurschtelte durch die Kiesel einer braunen Finsternis vor uns. Wir jäteten Unkraut. Seine immense Muskelkraft hypnotisierte mich. Jakop war ja krass und ich als Normalo musste das schlucken – seinen Anblick quasi aufessen, mit bloßen Händen fingernd verinnerlichen, fanatisch meine Nägel abbrechen an diesem Ausblick auf einen ackernden, besseren Bruder, ihn ganz in mich hineinschlingen, damit ich ein Schlingel wurde wie er.
„NICHT ANFASSEN!“ Jakop schlug mich von seinem gejäteten Unkraut weg.
„MACH DEINEN EIGENEN MIST“, kläffte er. Wir waren sechs Jahre alt und mein Bruder Jakop reflektierte bereits alles, was die weiße deutsche Gesellschaft im Dorf von einem Menschen mit Penis erwartete. Ich daneben wirkte phlegmatisch und dachte, ich sei ohne meinen Bruder an nichts selbst beteiligt. Jakop war blond und blauäugig, ich rothaarig und zart. Folgerichtig sah ich nur nach etwas aus, wenn er völlig neben mir stand und sein Schlaglicht in mich reinboxte. Obendrein war unser Heimatort Witterse ein trostloses Loch, in dem es eine extreme Menschenenergie wie seine benötigte, um den täglich gräuelnden Landfrust wie einen inneren Dämon unter Wasser zu halten. Jakop lieferte diese magnetische Energie. Nicht aufgrund seines biederen, großkotzigen Herzumfangs. Nein. Er polarisierte durch aggressives Temperament, durch sein Aussehen, seine makellose Wertoberfläche. Ein winziger, gelbköpfiger Heldenprinz war er. Ein Generator. Und ich sein Zwilling, was heißt, dass ich zwar wusste, wie Jakop aussah, aber unter sehnsuchtsvollem Druck stand, immer wieder und immer genauer hinzusehen, weil er der Vollkommenere von uns beiden war. Ich musste ihn immer so sehr und so täglich als so viel besser ansehen, sah ihn auch deshalb an wie eine Lösung, einen Sinn, weil, so wie er, so nämlich sollte auch ich sein. Genau das strahlte er auf mich aus. Außerdem sagten es die Leute im Dorf und meine Eltern zu mir, wenn ich neben ihm rumfleckte wie so’n Fleck neben einem schönen, kleinen Reinheitsgebot. Hätte er den Leuten ins Gesicht gepisst – bedankt hätten die sich und drei Wochen lang nicht gewaschen. Die liebten, dass seine Haare sittlich und geschwollen glommen wie echtes völkisches Hortgold verdammt, und hofften, dass es auf sie überging. Seine Haut umspannte ihn so weißrosig, dass der Anblick mich schmerzte vor Schneefraß in den Augen. Ich war blind vor Überzeugung. Ahnte damals noch nicht, dass er nicht perfekt, nicht heilig sein konnte. Ahnte nicht, dass er nicht heilsam war, dass es Heiliges als solches nicht gab. Dass, wenn in der Bibel von Gott die Rede war, der Himmelfeste und Erdumfang zur Beschäftigung für nach oben oder unten zeigende Schäfte erschaffen hatte, dass das erstens nicht heilig und daraus folgend Jakop kein Göttlicher sein konnte. Ahnte ich alles nicht. Ich glaubte ihn an der Haut und den Haaren. Mein Brudi, ein Vordruck, dem ich immer nachdruckste. So musste Mann sein.
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