„Ja, aber wenn wir einmal getrennt werden, dann können wir über eine große Entfernung reden, verstehst du?“
Luther nickte.
„Ich geh jetzt mal ein paar Schritte weiter, und du tippst die Eins ein.“
Sonnhüter entfernte sich.
Luther tippte die Zahl ein und hielt den „Ziegelstein“ an sein Ohr. Sein Gesicht sah sehr angestrengt aus. Plötzlich verbreitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht, und er redete ein paar Sätze.
Sonnhüter kam auf ihn zu. „Wunderbar, es klappt! Wir gehen wieder zum Auto.“
Unterwegs setzte Sonnhüter seine Erklärungen fort. „Und wenn es tu … wenn es klingelt, dann drückst du auf den grünen Hörer und kannst mit mir reden.“
Plötzlich blieb Luther stehen. „Was ist das?“ Er deutete auf den Boden. „Da sind Stein aus Messing gemacht und steht was drauf.“ Er las: „Hier wohnte Simon Nathan Frank, Jg. 1884, Flucht Holland, deportiert So … Sobibor, ermordet 28. 5. 1943.“
„Ja“, sagte der Pfarrer, „das gibt es seit einigen Jahren. Man nennt sie Stolpersteine. Sie erinnern daran, dass hier Juden gewohnt haben, die während unserer dunklen Zeit ermordet wurden.“
„Dunkle Zeit?“, fragte Luther und ging langsam weiter.
„Stell dir vor, in dieser dunklen Zeit sind über sechs Millionen Juden ermordet worden …“
„Was? So viel?“ Er schwieg und blickte auf die Messingsteine. Dann schüttelte er den Kopf und konnte es nicht glauben.
„Hab nit g’wusst, dass sind so viel Jüden in Teutschland g’west.“
„Nicht nur in Deutschland, auch in Polen, Ungarn, Holland und so weiter.“
Er blickte Luther an. „Ich muss dir das später noch einmal erklären. Ist vielleicht zu viel auf einmal.“
Sie gingen schweigend weiter. Luther bog in eine schmale Gasse ein und stand kurze Zeit später auf einem kleinen Platz. Er blickte auf ein imposantes Fachwerkhaus und entzifferte die Inschrift: „ALLES WAS MEIN THUN UND ANFANG IST, DAS GESCHEHE IN DEN NAMEN JESU CHRIST/DER STEHE MIR BEY FRÜH UND SPAT BIS ALL MEIN THUN EIN ENDE HAT.“
Luther nickte. „Recht christlich Leut, die Northeimer …“
„Na ja“, meinte Sonnhüter, „es geht so. Vielleicht damals. Die Inschrift ist ja schon ein paar Jahrhunderte alt.“
Schließlich waren sie wieder am Parkplatz angekommen. Sonnhüter kramte in seiner Tasche, holte seinen Geldbeutel heraus und drückte Luther ein paar Scheine in die Hand.
„Das ist Geld. Nur für alle Fälle, damit du nicht ganz leer dastehst.“
Luther bedankte sich, stopfte die Scheine in die Tasche und wartete, dass Sonnhüter ihm die Tür aufmachte.
Als Luther eingestiegen war, wollte der Pfarrer gerade selber Platz nehmen, da kam eine junge Frau auf ihn zu und sagte: „Augenblick mal.“
Sonnhüter blickte auf. „Ja?“
„Ich hab sie vorhin in der Kirche zufällig belauscht. Am Anfang dachte ich, es sei ein Scherz, aber dann … Hören Sie, das ist ja eine … Sensation … Eine Zeitreise! Der echte Luther! Ich bin Theologiestudentin und schreibe gerade eine Semesterarbeit über Luthers Vorstellung von Gesetz und Evangelium, und es wäre genial, wenn ich … Und seine Worte über den Krieg und die Juden würd ich auch gerne mal mit ihm …“
„Hören Sie“, sagte Sonnhüter, dem es heiß und kalt wurde. „Das … ist ein Irrtum. Dieser Mann ist ein Schauspieler, der sich auf seine neue Rolle einlässt und sich in das 16. Jahrhundert einfühlt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen.“
Er setzte sich und wollte die Tür zuschlagen, aber die Studentin hielt sie fest.
„Das glaub ich Ihnen nicht. Das ist kein Schauspieler.“
„Lassen Sie sofort die Tür los“, rief der Pfarrer und zog daran. Im letzten Augenblick ließ die junge Frau los, und die Tür knallte zu. Sonnhüter startete und fuhr aus der Parklücke. Er beachtete die Studentin nicht, die gestikulierend neben dem Auto herlief und schließlich aufgab.
Als Sonnhüter in den Rückspiegel blickte, sah er sie nicht mehr.
„Mann“, seufzte er, „noch mal gut gegangen. Die sind wir los!“
„Was wollt das jung Weib?“
„Was wollte die junge Frau, Luther. Das Wort Weib klingt heute nicht mehr gut.“
„Gut. Was wollte die junge Frau?“
„Sie hat gedacht, dass du der echte Luther bist, und wollte mit dir reden. Sie studiert Theologie …“
„Was? Die Wei … die Frauen studieren wie die Männer?“
„Natürlich. Du hast übrigens Genesis zwei falsch übersetzt. Es heißt nicht: Gehilfin, die um ihn sei, sondern: eine Hilfe ihm gegenüber. Verstehst du? Gleichwertig! Männer studieren, Frauen studieren, Männer fahren Autos, Frauen fahren Autos …“
„Frauen werden schwanger, Männer werden schwanger?“
„Nein!“, lachte Sonnhüter. „Das nun nicht.“
„Aber warum hat die jung Frau nicht mit mir reden dürfen?“
„Mann, Martin, wenn sich das herumspricht, dass der echte Luther hier unterwegs ist oder ein Mann, der sich für Luther hält, dann kommen hier Tausende von Leuten und das Fernsehen. Wir hätten keine ruhige Minute …“
„Was heißt: ein Mann, der sich für Luther hält?“, unterbrach ihn Luther aufgebracht. „Ich bin es selbst!“
„Ja, ja, natürlich. Aber ich habe auch meine Zweifel …“
„Sie wollt mit mir disputieren über Gesetz und Evangelium? Schad, dass du’s mir nicht erlaubst.“
„Martin, vertraue mir, wenn das die Leute mitkriegen … das wär nicht gut.“
„Und wo reisen wir hin?“
„Wir besuchen die katholische Kirche.“
„Was sollen wir bei den Römischen?“
„He, du hast selbst dazu gehört! Und die Katholischen haben sich geändert. Sie verlangen kein Geld mehr für die Verwandten im Fegefeuer. Es gab ein großes Konzil. Die Messe wird auf Deutsch zelebriert. Und der Papst ist bescheidener geworden.“
Luther schüttelte den Kopf. „Das glaub, wer will.“
„Nein wirklich, es hat sich vieles geändert. Das liegt daran, dass wir Kirche und Staat getrennt haben. Die Kirchen haben kaum noch weltliche Macht. Wenn du heute an Gott glaubst, dann ist das dein Privatvergnügen.“
„Privatvergnügen? Es geht nit darum, in der Religion nur Vergnügen zu haben. Ist manchmal ein hart Geschäft.“
„Nicht nit, sondern nicht , heißt das.“
„Gut, also: nicht.“
„Es ist so, Martin, die meisten glauben nicht mehr so richtig an Gott. Viele sind noch Kirchenmitglieder, aber Gott spielt keine Rolle mehr. Die Leute führen ihr Leben, so gut sie es können, und kommen nicht auf die Idee, Gott um Rat zu fragen, außer, sie sind in Not. Gott ist irgendwie aus unserem Leben verschwunden, wie … wie Wolken an einem sonnigen Tag. Es ist … normal, nicht an Gott zu glauben. Die Politiker, die Fürsten, fühlen sich Gott gegenüber nicht mehr verpflichtet. Sie machen ihre Arbeit. Und ich muss sagen, das Regieren ist zwar nicht immer opti … gut, aber wir leben in einem stabilen Land. Seit über siebzig Jahren gibt es keinen Krieg in Nordeuropa, und wir leben hier ganz bequem, wie du siehst. Es scheint alles ohne Gott zu gehen. Und der Glaube ist deine eigene Sache, eine Art Hobby – das Wort kennst du nicht –, eine Art Spiel für den Sonntag.“
Luther hatte aus dem Fenster geblickt und nur halb hingehört. Ihn beschäftigte offenbar etwas anderes. Plötzlich platzte er los:
„Die Römischen, die verdammten Papisten, werd ich nicht treffen!“ Er spuckte auf den Boden des Golfs. „Der Papst ist nichts anderes als der Teufel persönlich!“
Und als Sonnhüter verblüfft schwieg, fuhr der alte Reformator fort: „Oh, Papst, Vater aller verleugneten Christen, geschändet werde dein verfluchter Name, dein Reich komme in die Hölle, dein teuflischer Wille muss alsobald vergehn …“
Sonnhüter drückte auf den Knopf, und die Scheiben schlossen sich.
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