„Dem was?“
„Stell dir vor, es würde dir gelingen, in die Vergangenheit zu reisen und deinen eigenen Großvater zu erschießen …“
„Das würde ich nie machen!“
„Ist doch egal. Aber nur mal angenommen. Dann würdest du etwas tun, das deine eigene Existenz auslöscht. Du wärst nie geboren worden und könntest deshalb auch deinen Großvater nicht erschießen. Man verstrickt sich in irrsinnige logische Widersprüche.“
„Also keine Zeitmaschine …“
„Na ja, es gibt theoretisch noch die Möglichkeit, dass jemand aus einem Paralleluniversum bei uns landet, dessen Planet noch ein Zeitalter zurückliegt. Das käme uns dann so vor, als ob jemand aus der Vergangenheit bei uns auftaucht.“
„Hm. Aber du denkst, dass jemand aus dem Mittelalter durch einen Blitz bei uns landet, das ist … unmöglich?“
„Das ist möglich – allerdings nur in Hollywood.“
„Na ja, vielen Dank. Hat mich mal interessiert.“
„Nichts zu danken. Also, du brauchst nicht zu befürchten, dass jemand aus dem Mittelalter an deiner Tür klingelt.“
„Alles ist möglich“, brummte Sonnhüter, legte auf und ärgerte sich, dass er schon wieder einen biblischen Ausdruck gebraucht hatte.
Luther wunderte sich, wie leicht die Bücher heutzutage waren und wie viele Exemplare dieser einfache Pfarrer in seiner Bibliothek untergebracht hatte. Er musste ein reicher Mann sein.
Die „Tschiens“, wie Andreas die dicken Hosen genannt hatte, fühlten sich steif und schwer an. Da waren die engen Beinlinge, die Luther unter der Kutte trug und die man mit Bändern am Gürtel befestigte, bequemer gewesen.
Aber über den „Rasierapparat“ hatte Luther noch mehr gestaunt. Winzige Räder und Messer, die sich von selbst bewegten. Überhaupt bewegten sich die Dinge in diesem Jahrhundert fast alle von selbst: Rührlöffel, Spülmaschinen, die Messer einer lauten Sense, das Wasser, das durch einen Hebel plötzlich aus einem unsichtbaren Brunnen strömt, und vor allem die Bilder in dem magischen Spiegel. Sonnhüter hatte ihm erklärt, dass diese selbstbewegenden Dinge keine Magie waren, sondern dass man die Stromkraft entdeckt hatte, die in Gottes Schöpfung gewissermaßen eingewickelt gewesen war – und die die Menschen nun ausgewickelt hatten und benutzten.
Luther würde dieses Zeitalter, in dem er jetzt lebte, das „Selbstbewegte Zeitalter“ nennen.
Worüber er insgeheim staunte, es aber nicht sagte, das waren die Weiber mit ihren kurzen Röcken und den Männerhosen. Manchmal blieb ihm der Mund offen stehen, wenn er eine Frau mit abgeschnittenen Hosen entdeckte.
Im Augenblick saß Luther auf Sonnhüters Terrasse, hatte die Beine hochgelegt und trank Apfelsaft. Auf seinen Knien lag eines dieser leichten Bücher, und er versuchte gerade, die neue deutsche Sprache zu verstehen. Das Buch trug den merkwürdigen Titel „Pünktchen und Anton“. Bevor ihm Sonnhüter die deutschen Fürstentümer zeigen wollte, sollte er sich in dieser neueren Sprache besser auskennen. Sie kam ihm irgendwie blasser und leerer vor als seine eigene, als ob man alle Verzierungen abgeschnitten habe. Den Konjunktivus las man nur selten.
Auch vollkommen neue, unverständliche Wörter tauchten auf. Luther hatte zu diesem Zweck einen Zettel und einen Bleistift neben sich liegen und schrieb gerade das Wort „Eisenbahn“ auf. Was sollte das sein? Eine Straße aus Eis oder Eisen?
Dieser Kästner hatte zuweilen gute Einfälle, er schrieb: „Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie hätte passieren können.“
Aber was bedeutete: „Bei euch piept’s wohl?“
Die Terrassentür öffnete sich. Luther schaute hoch. „Wie wär’s mit einem Tee und einem Stück Kuchen oder Gebäck?“
Sonnhüter trug ein Tablett und stellte es auf den Tisch. Luther wunderte sich, dass keine Knechte und Mägde da waren, aber das war ja bei ihm zu Hause auch nicht anders gewesen. Sie waren alle ausgeflogen, und deshalb hatte er ja diese Kirschen selbst pflücken müssen.
Andreas verteilte Tassen und Teller, stellte Zucker und eine Schale mit kleinen gebogenen Teilen hin.
„Du kennst doch Tee, oder?“
„Oh ja. Meine Käthe bereitet ein Haufen Sorten zu: Hagebutten, Zitronenmelisse, Lindenblüten …“
„Das hier ist Tee aus Indien.“
„Das muss gar kostspielig sein.“
„Nein, ganz und gar nicht. Die Welt ist kleiner geworden. Du kannst mit einer fliegenden Autokutsche in einem Tag dort sein.“
„Was? Ihr könnet machen, dass eine Kutsch tut fliegen?“
„Nicht nur das. Wir können durch einen kleinen Apparat mit Menschen aus Indien reden.“
„Ich erinner mich. Die Magd in der … in jenem Schloss hat so einen Stein an ihr Ohr g’halten und geredt!“
Sonnhüter goss ein. „Bedien dich, wenn du Zucker haben willst …“
„Zuckra?“
„So etwas wie Honigpulver, ist ziemlich süß.“
„Ja, hab davon gehört. Ist aber nur was für die reich Leut. Mein Käthe hat den Honig verwendt aus ihren eigen Bienenstöck.“
Luther steckte den Zeigefinger in die Zuckerdose und probierte. Dann nickte er und ließ drei gehäufte Löffel in seinem Tee verschwinden.
Er rührte mit dem Löffel gedankenvoll herum und fragte: „Wie heißt eigentlich der Kaiser, der jetzt regieret?“
Sonnhüter trank einen Schluck und zögerte. „Wir haben in Deutschland keinen Kaiser mehr. Der letzte hat uns vor hundert Jahren einen furchtbaren Krieg beschert. Die Regierung wird vom Volk gewählt oder von den Volksvertretern. Das nennt man eine Demokratie …“
„Und … es gibt keinen obersten Fürsten oder König?“
„Doch, den gibt es, aber er hat nicht mehr die Macht, die ein Kaiser hatte. Wir nennen ihn Bundeskanzler. Und zurzeit ist es eine Frau, die …“
Luther blickte den Pfarrer mit erschrockenen Augen an. „Eine Frau, die an der Stelle des Kaisers regieret?“
„Ja, ja, mein Lieber, da staunst du, was? Aber es gab auch schon früher Königinnen, sogar vor deiner Zeit. Die Frauen, sage ich dir, sind jetzt auf dem Vormarsch. Sie müssen ihre Männer nicht mehr um Erlaubnis fragen, wenn sie Handel treiben. Und sie tragen Hosen wie wir …“
„… und ausnehmend kurze Röck“, fügte Luther hinzu.
„Genau“, sagte Sonnhüter. „Und weißt du was? Das fällt mir inzwischen gar nicht mehr auf. Ich hab mich daran gewöhnt.“
„Und tragen kein Gebind und Kopftuch mehr“, fuhr er fort. „Lasset ihr Haar grad frei und frank herunterhängen. Nur wenig Weiber han ein Kopftuch. Ein seltsam Zeitalter …“ Er schüttelte den Kopf und gähnte gleich danach.
„Ich denke“, sagte der Pfarrer, „du legst dich noch eine Weile auf die Couch und ruhst dich aus. Das ist ja alles ein bisschen viel. Und dann fahren wir in die Stadt, und ich kann dir ein paar Sachen zeigen. Wir haben hier sogar eine Martin-Luther-Schule.“
Luther schüttelte verwundert den Kopf.
„Ja, du bist berühmt geworden, mein Lieber. Nach über fünfhundert Jahren kennen die Leute deinen Namen. Ich denke, wir beginnen mit der Kirche. Das ist etwas Vertrautes.“
Eine Stunde später stiegen Sonnhüter und Luther aus dem Golf, nachdem sie neben der lutherischen Kirche geparkt hatten.
„Die Straßen sind so rein“, sagte Luther, nachdem er sich aus dem Golf gequält hatte, „als ob sie jeden Morgen gefegt werden. Kein Rossapfel oder faulig Gemüs, dem man ausweichen müsst.“
„Ja, wir sammeln alles in große Tonnen, die von der Stadt abgeholt werden.“
„Das nenn ich: Anbruch einer neu Zeit. Das Stinkende ist vergangen, siehe: ein neu Geruch ist geworden.“
Unter der riesigen Schillereiche, die den Kirchvorplatz in Licht und Schatten tauchte, kamen sie zum Kirchenportal. Der Pfarrer öffnete die schwere Tür.
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