„Praxis Dr. Neumann“, meldete sich eine junge Stimme.
„Hier Scherrer! Ist Dr. Neumann zu erreichen? Ich bin sein Schulfreund.“
„Ich stelle durch!“
Scherrer hörte eine ungläubige Stimme, die nachfragte, ob wirklich sein Schulfreund Professor Scherrer angerufen habe. Das war Roberts Stimme. „Ja, Dr. Neumann.“
„Robert?“
Für einen Augenblick war es still in der Leitung, dann kam die vorsichtige Rückfrage: „Edwin?“
„Ja, Robert, ich bin es.“
„Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesprochen.“
„Sprich das Wort Ewigkeit nicht aus, Robert. Ich brauche deine Hilfe.“
„So schlimm?“
„Ich glaube ja. Vor Wochen hat mich ein leichter Husten erwischt, aber er hörte nicht auf. Jetzt kann ich kaum mehr durchatmen und muss bei jeder kleinen Aufregung bis zum Erbrechen husten“, schilderte Scherrer seine Beschwerden. „Bei jedem Hustenanfall bekomme ich Angst, Todesangst, verstehst du?“ Er wunderte sich selber, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen, obwohl er immer wieder unterbrechen musste, um sich zu räuspern.
Als er endete, war es still am Telefon.
„Robert?“
„Du musst herkommen, oder noch besser, du meldest dich gleich in einer Spezialklinik zum Röntgen an. So kann ich nichts sagen.“
„Robert! Es geht um etwas anderes.“
„Um was?“
„Ich“, Scherrer stockte. „Ich möchte noch ein Mal so richtig leben und brauche ein Medikament, was heute Nacht den Husten unterdrückt, dann gehe ich in die Klinik. Noch ein Mal, verstehst du, Robert?“
„Ich verstehe, ich kenne dich ja!“ Ein leises Lachen war am anderen Ende des Telefons zu hören. „Du sollst haben, was du brauchst. Kannst du einen Boten vorbeischicken? Aber morgen musst du dich tatsächlich in Behandlung begeben! Alles hat einmal ein Ende.“
„Alles?“
„Fast alles, unsere Freundschaft nicht.“
Bevor Scherrer „Danke“ sagen konnte, war aufgelegt.
Der Professor bat seine Sekretärin, einen Tisch im Schlossgartenrestaurant zu bestellen, rief selber bei der Welt der Wissenschaften an und ließ zu Sybille durchstellen.
„Frau Walter? Hier Scherrer, Professor Scherrer. Sie waren gestern in unserem Institut und haben Sich für unsere Arbeit interessiert. Ja, Frau Ehlert, meine Sekretärin, hat mich informiert. Ich glaube, wir kennen uns aus dem Fasanengarten? Ist das richtig? Dann würde ich Sie für heute Abend in das Schlossrestaurant einladen. Man spricht doch viel besser bei einem Glas Wein als in einem kalten Institut, meinen Sie nicht? Passt Ihnen heute Abend 18.00 Uhr? Seien Sie pünktlich!“
Sybille Walter fuhr gleich nach dem Telefongespräch nach Hause, um sich für den Abend vorzubereiten. „Ich bin einer ganz großen Sache auf der Spur“, hatte sie ihrem Chef gesagt und gleich frei bekommen.
Erst vor dem Spiegel fand sie sich wieder. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie sich an die Autofahrt gar nicht mehr erinnern konnte. Wie war sie wohl gefahren? Den Gedanken an mögliche Strafzettel schob sie einfach von sich. Jetzt war etwas anderes wichtiger.
„Wie sehe ich aus?“, fragte sie ihr Spiegelbild.
„Willst du so zum Herrn Professor?“, fragte das zurück.
„Natürlich nicht! Aber wer weiß?“ Sie trug nur Spitzenhöschen und einen weißen Spitzen-BH. Prüfend ließ sie den Blick über die Figur gleiten. Sie konnte zufrieden sein: der Busen nicht zu groß, der Bauch flach. Prüfend legte sie die Hand dorthin. Ja, sie musste mit dem Essen aufpassen. Der Po wohl gerundet, alles war so, wie sie es mochte. Sie spürte eine kribbelnde Erregung, als sie sich so im Spiegel betrachtete.
„Wollen der Herr Graf den Tanz mit mir wagen?“, trällerte sie frei nach Mozart vor dem Kleiderschrank. Sie würde den schwarzen Hosenanzug anziehen, der ihre Figur so sehr betonte, und die durchsichtige, schwarze Bluse, die doch alles bedeckte. Darunter?
„Nichts“, sagte ihr Spiegelbild. „Du kannst dir das leisten.“
„Lass das!“, sagte sie und schloss die Schranktür. „Ich bin als Journalistin dort.“ Und wenn sie zunächst die Jacke anbehielte? Warum nicht? Sie öffnete erneut den Schrank und nahm entschlossen die Kleidung heraus.
Ihr Spiegelbild in der Schranktür grinste sie an. „Du wagst eine ganze Menge!“
„Aber gern!“, gab sie zurück.
Dagmar Scherrer fuhr mit ihrem Wagen langsam den Ring entlang nach Durlach. Der Tag war gut gelaufen. Die Verhandlungen hatten den gewünschten Erfolg gezeigt. Sie freute sich auf den Abend und kontrollierte ihr Aussehen im Rückspiegel. Das Make-up saß nach dem langen Tag noch tadellos. Auch die langen blonden Haare hielten in der hochgesteckten Frisur. Ob ihr Mann schon zu Hause sein würde? Heute lagen keine besonderen Konferenzen an. Jedenfalls hatte er nichts dergleichen gesagt. Sie bog in die Straße ein und sah zum Haus hoch. Aus dem Arbeitsraum ihres Mannes leuchtete schwach die Abendbeleuchtung. Er war also nicht da. Für einen Augenblick spürte sie die Enttäuschung wie einen Stich durchs Herz. Aber hatte sie wirklich erwartet, dass er schon zurück wäre? Mechanisch fuhr sie den Wagen in die Garage und ging zum Haus hoch. Irmgard kam ihr entgegen. „Ist mein Mann da?“, fragte sie und wusste schon die Antwort.
„Nein, er hat eine Nachricht gesandt, dass er spät kommen wird. In der Badischen Weinstube findet eine Konferenz für Journalisten statt. Es geht um …“
„Danke“, unterbrach Dagmar Scherrer. „Ich weiß.“ Sie ließ offen, was sie wusste.
„Möchten Sie zu Abend essen?“, fragte Irmgard besorgt. „Wo darf ich servieren?“
„Danke, ich werde warten.“
Irmgard knickste und zog sich zurück.
Als Dagmar Scherrer das Haus betrat, fiel ihr das Gesicht der Katzengöttin auf. Jeden Abend war sie an dieser Statue vorbeigegangen, aber heute hatte sie den Eindruck, die gemeißelten Augen würden sie aus dem schwarzen Granit anschauen. Erstaunt legte sie den Mantel ab und ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Durch das große Fenster sah man die Silhouette von Karlsruhe gegen den Abendhimmel. Sie blieb am Fenster stehen, bis die Schatten nicht mehr zu sehen waren und überall in der Stadt die Lichter angingen.
„Unsere Zeit war schön, Edwin, und ich danke dir. Jetzt gehen wir beide ganz unterschiedliche Wege“, sagte sie leise. Sie lauschte dem Klang ihrer Worte nach und vermisste die Trauer darin. „Jeder geht schon lange seinen eigenen Weg. Hoffentlich ist deiner ein guter Weg.“
„Brauchen Sie noch etwas?“, fragte Irmgard, die zur Tür hereinschaute.
„Nein, danke, Irmgard. Ich möchte nicht mehr gestört werden.“
Sie setzte sich in den großen Sessel und zündete eine Zigarette an. Es wurde dunkel im Zimmer. Die Skulpturen verschwammen zu Schatten, und nur die Glut der Zigarette leuchtete wie ein roter Stern.
Sybille hastete am Schloss vorbei durch den alten Botanischen Garten. Das Halbrund der Badischen Weinstube war nur wenig beleuchtet. Es war noch zu kühl, um draußen zu sitzen. Rasch stieg sie die Stufen hoch. An der Tür kam ihr Scherrer bereits entgegen.
„Wie schön, dass Sie kommen konnten.“ Scherrer lächelte überlegen. „Ich habe gedacht, dass Sie ein privates Gespräch vorziehen würden. Ich hoffe, es ist Ihnen recht so.“ Seine blauen Augen sahen sie auffordernd an.
Sybille nickte. „Sie hätten aber nicht so viele Umstände machen sollen“, sagte sie verlegen.
„Umstände?“ Er lachte mit angenehmer, tiefer Stimme. „Aber ich bitte Sie. Kommen Sie. Ich habe einen Tisch bei meinem guten Freund Natan bestellt. So hat man einen schönen Blick auf den Garten. Möchten Sie ablegen?“
Natürlich, sie hatte ja noch die Jacke an. Einen kurzen Augenblick zögerte sie, dann lächelte sie und sagte: „Danke, gerne, Herr Professor.“
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